Die Wut auf ICE ist gross an diesem Mittwochabend. Vor zwölf Stunden wurde eine Erzieherin festgenommen. Auf einem Handy-Video ist zu hören, wie sie sagt: «Ich habe Papiere.» Dabei wird sie aus dem Haus gezerrt, das eine Kita und einen Kindergarten beherbergt.
Hunderte sind kurzfristig zu dieser Kundgebung in Nord-Chicago gekommen. Politikerinnen und Politiker treten auf. Oder Geistliche wie Pfarrerin Suzanne Wille. Das hier passe zur Stadt, die als eine Wiege des «Organizing», der Arbeiterbewegung und Gewerkschaften gilt, sagt sie.
Der Anwalt der Festgenommenen erklärt, diese habe eine Arbeitserlaubnis. Von der Regierung hingegen hiess es, die Kolumbianerin sei illegal im Land. Sie sei vor den Beamten ins Gebäude geflüchtet, womit sie fahrlässig Kinder gefährdet habe.
Doch der zuständige Stadtrat Matt Martin entgegnet: «Was heute passiert ist, wiederholt sich viel zu oft in Chicago und anderswo. Es verstösst gegen unsere Gesetze und unsere Werte und muss aufhören.»
In jedem Stadtteil würden jetzt Leute mobilisiert, erklärt Pfarrerin Wille. Sie machten sich um ihre Primarschule sorgen, wo sie ihre Kinder hinbringen. Schulen werden bewacht, Nachbarschaftsnetzwerke gebildet. Hilfsorganisationen koordinieren eine Art Bürgergruppen, die dorthin eilen, wo ICE aktiv ist. Die Trillerpfeifen, die auf ICE-Beamte aufmerksam machen sollen, sind zum Symbol geworden.
Der nächste Morgen. Die Sonne steigt in den blauen Herbsthimmel. Eine junge Frau steuert ihr Velo durch den Morgenverkehr, die Kapuze über den Kopf gezogen. Sie sucht nach ICE-Beamten und deren unmarkierten Autos. Sie fährt Orte ab, die ICE schon als Treffpunkte genutzt hat wie etwa eine Brücke oder einen Friedhof. Sie checkt die Chatgruppen, in denen ICE-Sichtungen geteilt werden.
«Wir müssen dokumentieren, was sie tun»
Es sei ruhig. Aber gestern sei «Bananas» – verrückt – gewesen, so die morgendliche Kundschafterin. Sie berichtet von hunderten Meldungen zu ICE-Sichtungen, auch von der Festnahme in der Kita. Die Frau will anonym bleiben, sagt aber, sie arbeite im Gesundheitswesen und habe gerade eine Nachtschicht hinter sich. Sie patrouilliert allein, nur mit ihrem Velo.
Auch andere sind unterwegs: An einer Kreuzung steht ein bärtiger Mann, mit Videokamera auf dem Helm, eine Trillerpfeife um den Hals. Die Trillerpfeifen funktionierten, sagt die Velofahrerin: «Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Für ICE wird es schwieriger, wenn plötzlich 20 Weisse mit Pfeifen rundherum stehen. Wir müssen dokumentieren, was sie tun.»
ICE lockt mit hohen Prämien
Tatsächlich kursieren Videos von aggressiven Festnahmen und Tränengas. Ein Wohnblock wurde in fast militärischer Manier gestürmt. Die Republikaner haben das ICE-Budget massiv aufgestockt. Tausende neue Beamtinnen und Beamte werden mit Prämien von bis zu 50’000 Dollar angelockt. ICE knüpfe sich in Chicago die schlimmsten Schwerverbrecher vor, heisst es von der Regierung.
Auch viele papierlose Migrantinnen und Migranten ohne Vorstrafen werden festgenommen. Selbst US-Bürger geraten gelegentlich ins Netz von ICE. «Ich will zeigen, dass man nicht machtlos ist», sagt die Frau mit dem Velo. Alles, was gerade in den USA passiere, entmutige die Menschen. Aber man könne es den Beamten schwerer machen, Schlechtes zu tun: «Man muss sie nicht aufhalten, es ihnen nur schwerer machen. Das hat einen Wert, denke ich.»