Ein mögliches Treffen zwischen Selenski und Putin in Genf wirft rechtliche Fragen auf: Als IGH-Vertragsstaat müsste die Schweiz Putin laut Haftbefehl festnehmen. Aussenminister Cassis verweist jedoch auf Verfahren, die eine Verhaftung verhindern könnten. Völkerrechtsexperte Andreas Ziegler kennt sich mit solchen Fällen aus.
Herr Ziegler, gibt es solche Verfahren, die es der Schweiz erlauben würden, den Haftbefehl gegen Putin nicht zu vollstrecken?
Ja, es gibt tatsächlich solche Verfahren. Man muss sich vor Augen halten: Als der IGH geschaffen wurde, gingen die Meinungen dazu weit auseinander. Deshalb wurden die Bestimmungen im Römer Statut, dem Gründungsvertrag des IGH, festgehalten. Dort wird auch die Frage der Immunität und des Verfahrens zur eventuellen Nichteinhaltung eines Haftbefehls behandelt.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine Person von einer Immunität profitieren kann?
Es gibt einen Artikel im Statut, dessen Interpretation etwas umstritten ist. Aber grundsätzlich sieht er vor, dass wenn der IGH einen Haftbefehl ausgestellt hat – hier gegen ein Staatsoberhaupt –, dann müssen die Staaten mit dem IGH das Gespräch suchen, wenn sie sehen, dass sie dadurch in Probleme kommen. Man spricht von Konsultationen im Vertragstext: Die Schweiz muss dem Gerichtshof mitteilen, dass sie aufgrund dieser speziellen Konstellation ein Problem hat, den Haftbefehl zu vollstrecken.
Für die Schweiz ist es eine ungewohnte und heikle Aufgabe.
Cassis spricht auch von Nachbarländern. Welche Rolle spielen sie bei dieser Frage?
Nachbarländer können in verschiedener Form betroffen sein. Etwas ganz Praktisches wäre zum Beispiel der Transit: Wie reist die betroffene Person? Weil auch Länder, auf deren Staatsgebiet die Reise zum Vertragsort Genf stattfindet, betroffen sein könnten. Das ist aber eher eine politische Dimension. Die ganze Initiative zur Durchführung einer solchen Konferenz kommt insbesondere von den westeuropäischen Staaten, insbesondere den grösseren EU-Mitgliedern in Europa.
In diesem Fall könnte das Ziel, Frieden für die Ukraine zu erreichen, im Vordergrund stehen – und deshalb ein Abweichen vom üblichen Verzicht auf die Immunität von Staatsoberhäuptern gerechtfertigt sein.
Man könnte nun damit argumentieren, es gehe um den Frieden für den Krieg in der Ukraine. Ist diese Ausnahme dadurch begründet?
Dieses Treffen ist für die Schweiz natürlich ganz besonders wichtig. Darum wahrscheinlich auch diese Euphorie Cassis', Genf ins Spiel zu bringen, dem Wunsch von Frankreich und anderen Staaten zu entsprechen und die Guten Dienste anzubieten. Für die Schweiz ist dies eine ungewohnte und heikle Aufgabe, denn in den letzten Jahren setzte sie sich traditionell neben den Guten Diensten auch stark für den IGH und überhaupt für das Vermeiden von Straflosigkeit für diese völkerrechtlichen Verbrechen ein. Darum muss man hier genau erklären können, dass man diese beiden Ziele weiterhin verfolgen möchte.
In diesem Fall könnte aber das Ziel, Frieden für die Ukraine zu erreichen, im Vordergrund stehen – und deshalb ein Abweichen vom üblichen Verzicht auf die Immunität von Staatsoberhäuptern gerechtfertigt sein.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass der Strafgerichtshof diese Immunität gewähren wird?
Ich denke, er wird sie gewähren. Erstens eben wegen dieser Ausnahme. Zweitens: Der IGH lebt heute stark von der Unterstützung und von der Verteidigung durch die politisch wichtigen Staaten, die ihm angehören. Gerade diese Staaten, die nicht dem IGH angehören, sind jetzt doch an Friedensverhandlungen interessiert. Daher wird sich auch der Gerichtshof bewusst sein, dass die Staaten, die ihn als Gericht stützen, ein weiteres Anliegen haben, das in die gleiche Richtung geht.
Das Gespräch führte Christof Forster.