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Grossdemonstration in Tel Aviv Gaza, die Geiseln und der stumme Schrei nach Frieden

Hunderttausende Menschen protestierten in Tel Aviv für die Geiseln und gegen die Regierung. Eindrücke aus einem verwundeten Land.

«Mein Name ist Noam, ich bin die Tochter von Chaim Peri, der am 7. Oktober nach Gaza entführt und dort mit 79 Jahren ermordet wurde», sagt die Tochter eines bekannten Friedensaktivisten vor der riesigen Menschenmenge, die sich mitten in Tel Aviv versammelt hat. Sie spricht Englisch, damit US-Präsident Trump sie versteht:

«Präsident Trump, Sie können immer noch Geiseln retten»

«Herr Präsident, schauen Sie sich all diese Menschen an: Unsere Nation will ein Ende des Krieges und die Rückkehr der Geiseln. Sie können uns helfen – und als grosser Präsident in die Geschichte eingehen!»

Regierung ignoriert den Protest

Was Noam Peri und die anderen Rednerinnen und Redner von Trump fordern: Dass er den israelischen Premier Netanjahu daran hindert, die Millionenstadt Gaza einzunehmen und zu besetzen, wie das rechtsradikale Minister in der Regierung fordern.

Die Regierung hat die Einnahme von Gaza-Stadt jedoch bereits beschlossen. Gegen den Willen der Armeeführung. Und gegen den Willen Hunderttausender Demonstrantinnen und Demonstranten. Von denen viele seit bald zwei Jahren auf die Strasse gehen, wie Hadas. «Es nützt alles nichts, sie hören uns nicht!», beklagt die Professorin für jüdische Literatur.

Hadas findet, es gebe keine Rechtfertigung mehr für den Krieg, den Israel im Gazastreifen führe. Aber ein Grossteil ihrer Studentinnen und Studenten teile ihre Skrupel über die Tausenden von zivilen palästinensischen Opfer im Gazastreifen nicht, sagt die Professorin. «Wenn ich ihnen sage, wir tun schreckliche Dinge in Gaza, dann sagen sie: ‹Ist uns egal, das haben sie uns auch angetan!› Es bricht mir das Herz – ich weiss nicht, was ich noch tun oder sagen soll.»

Der Wunsch, gehört zu werden

Der 38-jährige Nadav kommt, wie Hadas, regelmässig an solche Demonstrationen. Dass diese nichts nützten, führt er unter anderem auf die internationale Kritik an Israel und den gleichzeitig zunehmenden Antisemitismus zurück. «Ausländische Medien greifen Israel und jüdische Menschen ständig an, und wenn wir uns angegriffen fühlen, halten wir zusammen», sagt Nadav.

SRF-Korrespondentin Susanne Brunner im Gespräch mit einem Demonstrationsteilnehmer.
Legende: Der Krieg in Gaza droht Israel zu zerreissen. SRF-Auslandredaktorin Susanne Brunner im Gespräch mit einem Demonstrationsteilnehmer. SRF

Er habe eine Freundin, welche erst kürzlich von Deutschland zurück nach Israel gezogen sei. Sie fürchte sich mehr vor Judenhass als vor dem Raketenbeschuss aus Gaza, dem Jemen oder dem Iran. Er selbst habe sich sogar überlegt, zum Christentum zu konvertieren, um sich vor Antisemitismus zu schützen: «Dabei bin ich nicht einmal gläubig. Aber die Angst vor Hass hat mich auf diese blöde Idee gebracht.»

Ich habe Angst, dass man in Europa alle Israeli als Mörder sieht. Dabei sind so viele von uns gegen diesen Krieg.
Autor: Shoval Junge Demonstrationsteilnehmerin

Die Demonstration endet mit dem Singen der Nationalhymne, dann strömen die Menschen zum nächstgelegenen Bahnhof. Eine junge Israelin kommt von sich aus aufs Mikrofon zu. «Ich freue mich, dass internationale Medien hier sind, weil ich fürchte, dass unsere Stimmen nicht gehört werden», sagt Shoval. «Ich habe Angst, dass man in Europa alle Israeli als Mörder sieht. Dabei sind so viele von uns gegen diesen Krieg.»

«Und wenn das nur ein Schweizer, eine Schweizerin hört – dann ist schon etwas erreicht. Helft uns, diesen Krieg zu beenden!», so die junge Israelin. Die, wie sie sagt, fast drei Jahre über ihren obligatorischen Militärdienst hinaus in der Armee gedient hat.

«Für viele ist die Haltung zum Krieg ein Dilemma»

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Susanne Brunner
Legende: Susanne Brunner/SRF

SRF-Auslandredaktorin Susanne Brunner, Tel Aviv: «In Israel ging am Dienstag eine halbe Million Menschen auf die Strasse – und das in einem Land, in dem nur rund zehn Millionen Menschen leben. Trotzdem ist es schwierig zu sagen, ob die Demonstrierenden tatsächlich repräsentativ für die gesamte Bevölkerung stehen.

Umfragen zeigen zwar immer wieder, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung ein Ende des Krieges wünscht – allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Die Haltung zum Krieg ist kompliziert und für viele ein Dilemma. Noch immer hält die Hamas rund 50 Geiseln im Gazastreifen fest. Solange sie und ihre Familien in Israel leiden, gibt es selbst bei vielen Menschen im eher linken politischen Spektrum wenig Sympathien für das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Die Menschen, die dieses Leid anprangern und deswegen ein Ende des Krieges fordern, sind eine kleine Minderheit. Weit verbreitet ist jedoch die Ansicht, dass sich Premier Netanjahu mit diesem Krieg an der Macht hält. Und dass der Krieg weder militärisch noch zum Schutz der israelischen Bevölkerung irgendetwas bringt. Selbst ranghohe Militärs kritisieren Netanjahus Entscheid, Gaza-Stadt einzunehmen.

An der gestrigen Demonstration in Tel Aviv habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die gegen Netanjahu demonstrieren und im Gazastreifen gekämpft haben oder wieder kämpfen müssen. Auch das ist ein grosses Dilemma. In Israel gibt es die Militärpflicht für Frauen und Männer. Das Militär ist für die Gesellschaft die glaubwürdigste Institution und alle haben ihre Freunde, Töchter, Söhne und Verwandten in der Armee. Wenn sie kämpfen, tut man das auch selbst – auch wenn man gegen den Krieg ist. Das macht einen effektiven Protest gegen Netanjahu fast unmöglich – denn er befiehlt, was die Armee tun muss.

Rendez-vous, 27.8.2025, 12:30 Uhr;sten

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