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Rote Linie überschritten Der Iran wagt die Eskalation

Nun also doch. Seit Tagen wurde darüber gerätselt, ob der Iran Israel attackieren wird. Teheran wiederholte seine Drohungen als Antwort auf den Angriff vor zwei Wochen auf ein iranisches Konsulat in Syrien, bei dem ein Kommandeur der Revolutionsgarden getötet wurde. Diese Operation wird gemeinhin Israel zugeschrieben. Nun liess die Führung in Teheran ihren Worten Taten folgen. Sie überschritt damit eine rote Linie. Denn bisher führte der Iran einen Schattenkrieg gegen Israel. Mit seinen Milizen, der Hisbollah im Libanon, der Hamas in Gaza und den Huthis im Jemen. Nun griff er Israel erstmals unmittelbar an.

Die Bedeutung dieses Schritts ist nicht zu unterschätzen. Zumal unklar ist, ob damit aus Sicht der Mullahs hinreichend Vergeltung geübt ist. Die Signale dazu sind widersprüchlich: Zum einen ist davon die Rede, es habe sich nur um «Teile der Antwort» gehandelt. Zum andern meldet die iranische Botschaft bei der UNO, damit sei die Angelegenheit erledigt.

Lesart der iranischen Absichten gilt nicht mehr

Der Grossangriff zeigt, dass Teheran inzwischen zu einer Eskalation bereit ist und vor einem direkten Krieg mit Israel nicht länger zurückschreckt. Damit gilt die gängige Lesart der iranischen Absichten nicht länger. Zwar blieben die Schäden der jetzigen Angriffswelle überschaubar. Die israelische Luftabwehr erwies sich erneut als wirksam – und die USA, Grossbritannien und Jordanien halfen mit, die iranischen Angriffe abzuwehren. Doch so effizient ein Luftabwehrschirm ist, völlig dicht ist er nie. Hätten eine, zwei oder drei iranische Raketen oder Drohnen ihn durchbrochen und wären sie in einer Menschenansammlung eingeschlagen, könnte die Opferzahl riesig sein und die Gewaltspirale erst recht befeuern. Das Regime in Teheran nahm das offenkundig in Kauf.

Dessen Furcht vor israelischen Gegenangriffen, die aus Jerusalem bereits angekündigt wurden, scheint begrenzt. Obschon Israel beim nächsten Eskalationsschritt nun seinerseits direkt den Iran angreifen könnte, was es bisher vermied.

Amerikanischer Einfluss geschrumpft

Der nächtliche Angriff zeigt ausserdem, wie stark der amerikanische Einfluss im Nahen Osten geschrumpft ist. Obschon US-Präsident Joe Biden glasklar erkennen liess, dass er bei einer iranischen Attacke voll und ganz hinter Israel steht – anders als im Gaza-Krieg –, hielt das die Führung in Teheran nicht ab.

Schliesslich wird sich in den nächsten Stunden zeigen, dass die Weltpolitik keinerlei Rezept gegen eine weitere Nahost-Eskalation hat. Die Staats- und Regierungschefs der G7 werden ausserordentlich und virtuell tagen. Der UNO-Sicherheitsrat plant eine Sondersitzung in der Nacht auf Montag. Aus allen Ecken der Welt ertönen mahnende Worte. Bewirken werden sie nichts. Das Risiko eines grossen Krieges im Nahen Osten ist deutlich gestiegen, eines Krieges zwischen den beiden bedeutendsten Militärmächten in der Region, Iran und Israel.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

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SRF 4 News, 14.04.2024, 7 Uhr

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