In Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von der Hauptstadt Moskau, sollte eigentlich Feststimmung herrschen. In diesem Sommer feiert die Stadt ihr 800-Jahr-Jubiläum. Doch vor Ort sind viele Einwohnerinnen und Einwohner nicht gut auf die Feierlichkeiten zu sprechen. Grund dafür: die vielen Baustellen in der ganzen Stadt.
«Wir sollten uns nicht verpflichtet fühlen, eine Photoshop-Version unserer Stadt zu machen, entsprechend der Reiseroute der Regierung», kritisiert Strassenkünstler Nikita Nomerz die lokalen Behörden. Denn: Entlang dieser Route würden alle Fassaden gestrichen, die Innenhöfe aber in einem Zustand wie vor Jahrzehnten belassen.
Ein Beispiel: Während der ersten Welle habe er unter dem Titel «Ausnahmezustand» eine Reihe von Wörtern, die man damals oft hörte, in einen anderen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt.
Die Behörden hätten darauf ein Graffiti übermalt, welches Sondereinheiten der Polizei zeigte. «Ich habe das Wort ‹Abstand› zu Sondereinheiten gemalt. Um zu zeigen, wie der Staat bei uns Distanz schafft zwischen der Regierung und den Menschen im Land.»
Druck auf unabhängige Stimmen
Während der Strassenkunst in Russland noch einen gewissen Freiraum zuteilwird, ist für unabhängige Medien die Luft längst gefährlich dünn geworden.
Die 21-jährige Margarita Slawina würde gerne in die Fussstapfen ihrer verstorbenen Mutter, Irina Slawina, treten und als Journalistin arbeiten. Aber deren Erfahrung hält sie davon ab: «Es gab Zeiten, in denen unsere ganze Familie von den Behörden unter Druck gesetzt wurde. Meine Mutter machte sich Sorgen, dass mir die Polizei Drogen unterschieben oder dass mich jemand verprügeln könnte.»
Mit ihren Recherchen hatte Irina Slawina regelmässig Korruptionsskandale aufgedeckt, war deswegen in Konflikt mit den Behörden geraten. Bis zu ihrem Tod leitete sie die einzige unabhängige Zeitung von Nischni Nowgorod.
Meine Mutter hat sich mit ihrer Arbeit für die Allgemeinheit aufgeopfert.
Nachdem die Behörden bei einer von mehreren Hausdurchsuchungen auch Kamera und Computer beschlagnahmt hatten, wurde der Druck zu gross. Irina Slawina beging im Oktober vergangenen Jahres Suizid durch Selbstverbrennung. Wenige Minuten zuvor publizierte sie auf Facebook ein kurzes Statement: «Für meinen Tod trägt der russische Staat die Schuld.»
Margarita Slawina kämpft seither gegen das Gefühl, ihre Mutter sei im Stich gelassen worden: «Ich war sehr wütend auf die Menschen, die zu Hause sitzen und schweigen. Meine Mutter hat sich mit ihrer Arbeit für die Allgemeinheit aufgeopfert.» Kurz nach dem Suizid ihrer Mutter demonstrierte Margarita Slawina in der Innenstadt mit einem Plakat und der Aufschrift: «Während meine Mutter bei lebendigem Leib verbrannte, habt ihr geschwiegen.»
In den Monaten seither, hätte sich kein breites Gefühl der Solidarität unter den Menschen eingestellt, ist die Studentin überzeugt: «Wir werden sehen, wann auch die Menschen begreifen, in welcher Hölle sie leben.»
Die Wahl der nächsten Generation
Laut neusten Umfragen von Juni wollen 48 Prozent der 18- bis 24-jährigen Russland verlassen. Auswandern ist längst auch in der russischen Provinz ein ständiges Thema unter jungen Menschen. «Ich kann kein Englisch, deswegen habe ich keine Wahl, ob ich hier leben will oder nicht. Aber meine Kinder sollen unbedingt Englisch lernen – damit sie als Erwachsene eine Wahl haben», erzählt der 32-jährige Iwan Wasilitsch.
Der gelernte Baggerfahrer lebt unweit von Nischni Nowgorod in der Kleinstadt Bor. «Ohne einen Machtwechsel fällt es schwer, überhaupt von Perspektiven zu sprechen», sagt Wasilitsch. Er ist mit dem Kurs der Regierung nicht einverstanden; glaubt, dass sich an der Situation im Land in den kommenden Jahren nichts ändern wird.
Eine von vielen Stimmen aus der Provinz, die zeigen: Auch 30 Jahre nach Ende der Sowjetunion fehlt es in Russland an neuen Ideen, wo die Zukunft des Landes liegen soll.