Russlands Machthaber Wladimir Putin hatte direkte Verhandlungen über ein Ende seines Angriffskriegs auf die Ukraine in Istanbul vorgeschlagen – und reist nun doch nicht hin. Er schickt nur subalterne Vertreter in die Türkei, während der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski anreisen wollte.
Wie sieht man dies in der Ukraine? Die Journalistin Daniela Prugger hat sich in Kiew umgehört.
SRF News: In Istanbul hätten sich Selenski und Putin erstmals seit Kriegsbeginn persönlich getroffen – doch Putin reist nicht an. Was sagen die Menschen in Kiew dazu?
Daniela Prugger: Niemand hat hier damit gerechnet, dass Putin tatsächlich nach Istanbul reisen würde. Die von mir darauf angesprochenen Passanten in Kiew haben bloss gelacht – und umgehend über Putin geschimpft. Seit Tagen fragt man sich in der Ukraine, worüber in Istanbul denn verhandelt werden soll, während Russland Kiew praktisch jede Nacht mit Raketen angreift. Das zeigt klar, wer der Angreifer ist – und dass Russland keinerlei Interesse an einem Ende des Krieges hat. An dieser Realität hat sich in den letzten drei Jahren nichts geändert.
Viele Menschen in Kiew sehen in Selenskis umgehender Antwort einen klugen Schachzug.
Putin hatte das Treffen angeboten, Selenski ging darauf ein. Was ist das Kalkül des ukrainischen Präsidenten?
Viele sehen in Selenskis umgehender Reaktion einen klugen Schachzug. Denn so wird umso sichtbarer, dass die Ukraine dazu bereit ist, eine Lösung zu suchen, nicht aber Russland. Man hofft, dass das auch US-Präsident Trump sieht und ihm die beiden Positionen langsam klar werden.
Geht Selenskis Kalkül also auf?
Russland lehnte schon am Wochenende eine 30-tägige Waffenruhe ab, die von Merz, Macron, Starmer und Tusk – gedeckt von Trump – gefordert worden war. Die Ukraine ihrerseits hatte der Waffenruhe zugestimmt, obschon eine solche ihr nicht unbedingt Vorteile bringen würde. Laut Militärexperten wäre eine Waffenruhe vor allem eine Verschnaufpause für die russische Armee, die später umso heftiger wieder angreifen würde.
Was sagen die Menschen in Kiew zum taktischen Spiel rund um mögliche Gespräche in Istanbul?
Man hofft auf ein Ende des Krieges – spürt inzwischen aber eine grosse Ernüchterung, was die Hoffnung auf die internationale Diplomatie angeht. So befasst sich die EU derzeit zwar gerade mit dem 17. Sanktionspaket gegen Russland – aber hier in Kiew weiss man, dass auch dieses Russland nicht davon abhalten wird, die Ukraine weiter massiv anzugreifen.
Man weiss, dass man die Unterstützung der USA braucht – und Trumps Spiel deshalb mitmacht.
Hinzu kommt der unberechenbare Faktor Trump: Viele in der Ukraine hatten gehofft, dass er einen Deal mit Moskau hinbekommt. Doch seitdem Selenski im Weissen Haus von Trump und seinem Vize JD Vance derart vorgeführt wurde, hat sich das radikal verändert. Zugleich weiss man, dass man die Unterstützung der USA braucht und Trumps Spiel deshalb mitmacht. Denn ohne die Waffen aus den USA wird es schwierig, sich gegen Russland zu verteidigen.
Wie steht es um das Vertrauen der Menschen in ihren Präsidenten?
Die neuste Umfrage zeigt, dass inzwischen 74 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer hinter Selenski stehen. Der Wert ist seit dem Eklat im Weissen Haus stark angestiegen. Viele Menschen haben den Angriff der US-Administration auf ihren Präsidenten sehr persönlich genommen.
Wie sehen die Menschen in Kiew ihre längerfristige Perspektive?
Sie machen keine Pläne mehr für die Zukunft. Jeden Tag muss man mit Raketeneinschlägen rechnen, jeden Tag werden im ganzen Land gefallene Soldaten begraben. Seit mehr als drei Jahren ist das die Lage in der Ukraine. Die einzige Gewissheit ist, dass der Krieg weitergeht.
Das Gespräch führte Dominik Rolli.