Ein schmaler Weg führt an den Zelten des syrischen Flüchtlingslagers am Dorfrand von Ketermaya vorbei. In diesem inoffiziellen Lager im Choufgebirge südöstlich der libanesischen Hauptstadt Beirut lebt Sham, seitdem sie sechs Jahre alt ist. Nun ist sie 14 und hat Angst vor ihrem 15. Geburtstag. «Hier verheiraten Eltern ihre Kinder jung», sagt Sham, die ursprünglich aus Ost-Ghouta stammt, einer der am brutalsten umkämpften Städte in Syrien.
Jede Nacht schaue ich mich an und habe Angst, 15 oder gar 16 zu werden.
«Wenn ich auch noch mit 15 hier bin, werden mich meine Eltern loswerden», sagt Sham, und fordert ihre nur wenig ältere Freundin auf, zu sagen, wie es bei ihr ist. «Ich bin verheiratet und habe zwei Buben», sagt diese. Dank ihrer Heirat entkam sie dem Flüchtlingslager. Allerdings nur kurz: Ohne Arbeit konnte ihr Mann die Wohnungsmiete nicht bezahlen, nun leben sie wieder in einem Zelt. Bevor ihre Freundin weiterreden kann, sagt Sham: «Siehst du?»
«Meine Mutter kam als junge Frau hierher, und schau, wie alt sie jetzt ist.» Sham meint damit die acht Jahre, die vergangen sind, seitdem ihre Eltern aus Syrien ins Nachbarland Libanon geflohen sind. «Jede Nacht schaue ich mich an und habe Angst, 15 oder gar 16 zu werden, und noch immer hier zu sein.»
Traum vom Leben in Grossbritannien
Der Weg führt an Zelten vorbei, in denen junge Frauen mit ihren Kindern sitzen. Gleichaltrige, unverheiratete Freundinnen hat Sham hier keine, und auch keine Privatsphäre. Sie öffnet eine Holztüre, die zum Vorraum ihres Zeltes führt. Über die Jahre hat es die Familie zu einer etwas stabileren Behausung gemacht. Dass sie überhaupt hier sein darf, verdankt sie einem Unternehmer, der den Flüchtlingen ein Grundstück zur Verfügung stellt.
Shams Mutter sitzt im kleinen Raum am Boden. Sie lässt ihre Tochter reden. «Es ist ein kleiner Raum, in dem wir zu sechst leben und schlafen», sagt die Jugendliche, und erzählt, dass einige ihrer Freundinnen mehr Glück hatten als sie. Sie hätten es nach Grossbritannien geschafft, schickten ihr Bilder von Wohnungen mit fliessendem Wasser und von schönen Schulen.
Es ist furchtbar, dass ich keine Schulbildung habe.
Sie selbst ging in den letzten Jahren fast nie zur Schule: wegen des Krieges, der Flucht – und mangels Zugang zu den öffentlichen Schulen in Libanon. «Ich rede Arabisch, aber lesen kann ich nicht, weder Arabisch noch Englisch», sagt die 14-Jährige. «Es ist furchtbar, dass ich keine Schulbildung habe.» Aber noch schlimmer als die fehlende Schulbildung sei, dass sie nach all den Jahren noch immer hier in diesem Flüchtlingslager sei. Das lasse sie verzweifeln.
«Ich habe keine Zukunft», sagt die 14-jährige Sham. Nach Syrien zurückkehren wollen ihre Eltern nicht, weil sie dort alles verloren haben. Libanon möchte aber, dass die syrischen Flüchtlinge zurückkehren, und kümmert sich nicht um sie. Für Jugendliche wie Sham ist es eine Sackgasse.