Zum ersten Mal seit 80 Jahren ist ein syrischer Präsident auf Staatsbesuch in Washington. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa trifft US-Präsident Donald Trump. Genau jetzt meldet Syrien einen Schlag gegen die Terrormiliz IS. Bei über 60 Razzien in allen Teilen des Landes seien über 70 Menschen festgenommen worden. Damit wolle al-Scharaa ein Signal senden, sagt Syrien-Kennerin Kristin Helberg.
SRF News: Dieser Schlag gegen den IS kurz vor dem Termin in Washington: Das kann kein Zufall sein, oder?
Kristin Helberg: Eine landesweite Razzia lässt sich nicht über Nacht planen. Sie wurde bestimmt schon länger vorbereitet. Aber die Übergangsregierung will das Signal senden, dass sie sich am Kampf gegen den IS beteiligt.
Wie gross ist die Gefahr durch den IS in Syrien?
Der IS ist nie verschwunden in Syrien. 2019 wurde das Kalifat offiziell aufgelöst. Aber der IS ist im Untergrund weiter da, mehrere tausend Kämpfer sind aktiv. In Gefängnissen in Nordostsyrien werden sie bewacht. Deren rund 38'000 Frauen und Kinder leben in zwei Lagern. Das Erbe des IS ist eine grosse Belastung für Syrien. In den letzten Monaten ist der IS erstarkt, hat Angriffe geplant und durchgeführt – 90 Prozent im Nordosten, teils gezielt gegen Sicherheitskräfte der Übergangsregierung.
Man erwartet, al-Scharaa könnte den Beitritt Syriens zur Allianz gegen den IS ankündigen.
Der Kampf gegen den IS ist für ihn nichts Neues. Er hatte in Syrien die Al-Nusra-Front gegründet, den damaligen Al-Kaida-Ableger für Syrien. Vom IS hat er sich von Anfang an distanziert. 2016 hat al-Scharaa mit Al-Kaida gebrochen und den IS in seinem Einflussgebiet in Idlib aktiv bekämpft. Das macht seine Haltung glaubwürdig.
Die internationale Gemeinschaft sieht Ahmed al-Scharaa als die richtige Person für den Übergang.
Trotzdem war al-Scharaa auf der Terrorliste. Wie glaubwürdig kann Syrien bei der Terrorbekämpfung international sein?
Ahmed al-Scharaa hat für Syrien bestimmt eine islamistische, autoritäre und zentralistische Vision. Dennoch ist der IS auch für ihn der Feind. Es wurde ein gemeinsames Antiterrorzentrum eingerichtet, an dem sich auch Jordanien, die Türkei, der Libanon und die USA beteiligen. Der IS eint die Akteure, die in Syrien eine Rolle spielen. Diese Zusammenarbeit braucht es, um Syrien insgesamt zu stabilisieren.
Ich gehe davon aus, dass Syrien sich an der internationalen Anti-IS-Koalition beteiligt.
Wie beurteilen Sie die Lage der Menschen in Syrien?
Ahmed al-Scharaa will das Land stabilisieren und braucht internationale Unterstützung. Er hofft auf ein US-Engagement und darauf, dass der Kongress die Sanktionen aufhebt. Das Problem ist, dass sich die Menschen in Syrien nicht alle gleichermassen sicher fühlen, vor allem nach den Massakern und Gewalteskalationen im März und Juli. Auch nationale Sicherheitskräfte waren involviert. Al-Scharaa hat Mühe, sie und ihren Wunsch nach Rache zu kontrollieren.
Kann er Vertrauen aufbauen?
Er muss die Gewalt des Assad-Regimes und den Krieg aufarbeiten. Noch hat al-Scharaa nicht alle überzeugt, dass er es ernst meint mit der Demokratie. Ihm ist es besser gelungen, das Vertrauen international herzustellen. Die internationale Gemeinschaft sieht ihn als die richtige Person für den Übergang. Ob er tatsächlich seine Macht teilen wird und Schritte in Richtung Wahlen geht, wissen wir erst in drei bis fünf Jahren.
Was erwarten Sie vom Treffen mit Donald Trump in Washington?
Ich gehe davon aus, dass Syrien sich an der internationalen Anti-IS-Koalition beteiligt. Ein weiteres wichtiges Thema wird das Verhältnis zu Israel sein. Donald Trump möchte gerne vermitteln zwischen Israel und Syrien, die immer noch im Kriegszustand sind.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.