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Todesstrafe in Saudi-Arabien Wo Massenhinrichtungen und Modernisierung einhergehen

Das Königreich will sich wirtschaftlich und gesellschaftlich öffnen – und richtet Menschen auf barbarische Art hin.

Kinos, Theateraufführungen, Frauen am Steuer: Angeführt vom Kronprinzen Mohammed bin Salman wagt Saudi-Arabien den Aufbruch in die Moderne. Die «Vision 2030» des de facto Machthabers sieht eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Öffnung des erzkonservativen Königreichs vor.

Ein anderes Bild zeichnet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Während die Zahl der Hinrichtungen weltweit rückläufig ist, werden in Saudi-Arabien wieder mehr Menschen exekutiert. Im vergangenen Jahr waren es 184 – die höchste Zahl, die Amnesty je für den autoritär geführten Wüstenstaat dokumentiert hat.

Guido Steinberg, intimer Kenner Saudi-Arabiens, überrascht das nicht: «Das Land ist in den letzten Jahren repressiver geworden.» Der Reformprozess schreite zwar auf allen Ebenen voran. «Er wird aber sehr autoritär geführt. Und das ist verbunden mit mehr Todesstrafen gegen Oppositionelle.»

Den traurigen Höhepunkt bildete eine Massenhinrichtung in der Hauptstadt Riad im April letzten Jahres. 37 Männer, darunter 32 Angehörige der schiitischen Minderheit, wurden geköpft. Einer der Verurteilten wurde laut Medienberichten gekreuzigt.

MBS
Legende: Der Wüstenstaat soll unabhängiger vom Öl werden und neue Märkte erschliessen. Geht es nach dem Kronprinzen, soll das Stigma des rückwärtsgewandten Gottesstaates weichen. Reuters

Amnesty bezeichnet die Hinrichtungen als eine «politische Waffe». «Die saudische Regierung behauptet dagegen, dass es sich bei diesen Oppositionellen um gefährliche Terroristen handelte, die auch für Attentate verantwortlich gewesen seien», sagt Steinberg.

Diese Darstellung sei aber in vielen Fällen zweifelhaft. Denn «Terrorismus» ist in dem autoritär geführten Land ein dehnbarer Begriff. Wer an friedlichen Demonstrationen teilnehme, drohe von der Justiz dem Dunstkreis des Terrorismus zugerechnet zu werden.

«Gottgefällige» Hinrichtungen

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Die Todesstrafe wird in Saudi-Arabien mit dem Islam gerechtfertigt. Viele der Richterposten im Königreich werden von wahhabitischen Religionsgelehrten besetzt, die einer ultrakonservativen, puritanischen Auslegung des Islams folgen. «Das Königshaus verweist denn auch darauf, dass die Todesstrafe bei Mord im Koran vorgegeben und gottgefällig sei», so Steinberg.

Davon lasse man sich auch in der internationalen Diplomatie nicht abbringen. «Dazu kommt, dass die Verfahren sehr intransparent sind. Ein grosser Teil findet im Geheimen statt, die Urteile liegen nicht vor.» Auch Folter sei an der Tagesordnung in saudischen Gefängnissen, um Geständnisse zu erzwingen. «Das sind Prozeduren eines Unrechtsstaates», schliesst Steinberg.

Für Steinberg hat die Repressionswelle im Land ein Gesicht: dasjenige von Mohammed bin Salman. Sein Aufstieg zum Strippenzieher im Königshaus begann 2015. Seither befinde sich «MBS» in einem Kalten Krieg mit dem Erzrivalen Iran. Mit Folgen für die schiitische Minderheit im Land.

«Die saudische Regierung wirft ihnen vor, eine Art fünfte Kolonne des Irans zu sein», sagt Steinberg. Mit der verstärkten Durchsetzung der Todesstrafe versuche der Kronprinz, die Schiiten auf Linie zu bringen. «Er will ihnen klarmachen, dass es für sie keine Möglichkeit gibt, Veränderungen einzufordern.»

«MBS» – ein neuer Atatürk?

Archaische Hinrichtungen und Aufbruchstimmung scheinen kaum miteinander vereinbar. Für Steinberg ist das aber kein Widerspruch: «Das Land wird sozial und wirtschaftlich modernisiert. Gleichzeitig sichert sich Bin Salman eine Alleinherrschaft.»

Der König von Saudi-Arabien.
Legende: Noch regiert der greise König Salman im Hause Saud. «MBS» macht unmissverständlich klar, wer die Thronfolge seines Vaters antreten soll. Reuters

Denn auch nach innen räumt der Anwärter auf den Königsthron auf. Jüngst berichteten Medien über ein «Game of Thrones», wild wuchernde Palastintrigen und Festnahmen: «Bin Salman schaltet derzeit Dutzende führende Prinzen aus, die früher geherrscht haben – und das mit brutaler Gewalt», so Steinberg.

Er vergleicht die Vorgänge mit Kemal Atatürk, der vor 100 Jahren die moderne Türkei aus der Taufe hob. «Er hat Reformen durchgeführt und gleichzeitig auf eine autoritäre Konsolidierung seiner eigenen Herrschaft gesetzt.» Genau das geschehe derzeit auch in Saudi-Arabien, wo Bin Salman jeden Widerstand beseitige. Auf der Strasse genauso wie im Palast.

SRF 4 News, 21.04.2020, 7:26 Uhr ; 

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