Darum geht es: Die Ukraine macht Druck auf Männer im wehrpflichtigen Alter im Ausland. Die Regierung stellt die konsularischen Dienste für diese Bevölkerungsgruppe vorübergehend ein. Wer zwischen 18 und 60 Jahre alt ist, kann zum Beispiel im Ausland derzeit keinen neuen Pass beantragen. Stattdessen müssen sich die Männer bei den Rekrutierungsbehörden melden, wenn sie neue Dokumente brauchen.
Hintergrund der neuen Regelung: «Das geschieht mit dem Hintergedanken, dass diese Leute zurückkehren und der Armee zur Verfügung stehen», meint Judith Huber, SRF-Sonderkorrespondentin für die Ukraine. Mit dieser «Hauruckmassnahme» wolle Kiew vermeiden, dass sich Auslandsukrainer neuen Regeln der Mobilisierung entziehen. «Aussenminister Dmytro Kuleba hat das auch relativ offen kommuniziert: Es gehe nicht, dass die einen an der Front ihr Leben opfern und die anderen im Ausland sitzen sowie auch noch staatliche Dienstleistungen bekommen.» Sasha Volkov, Sprecher des Ukrainischen Vereins der Schweiz, sieht es pragmatischer: «Im Moment will die Regierung wissen, welche Ressourcen sie überhaupt hat.» Viele Menschen hätten ihren Wohnort gewechselt und dabei die Militärbehörden nicht informiert. «Die Regierung will, salopp gesagt, die Mobilisierungsressourcen abschätzen können», so Volkov.
So viele Auslandsukrainer sind betroffen: Es sind etwa 800'000 Ukrainer, die jetzt in Europa ausserhalb der Ukraine sind. «Darunter sind auch einige, die sich durch Flucht oder durch Bestechung der möglichen Einberufung in die Armee entzogen haben», erklärt Huber. Wiederum andere würden allerdings schon länger im Ausland leben. «Es trifft primär diejenigen, die ihren Pass dringend benötigen. Sie haben keine Wahl», meint Volkov. Die Allermeisten könnten jedoch einfach abwarten und sich vermutlich später eine Art Bescheinigung einholen, womit sie wieder Konsulardienstleistungen erhalten würden.
Die Wehrbereitschaft der Ukrainer: Gemäss Umfragen ist die Wehrbereitschaft in der Ukraine immer noch hoch: etwa bei 60 Prozent. «Und die jüngsten Zusagen für Waffenlieferungen aus den USA dürften wieder mehr Optimismus verbreiten unter den Wehrpflichtigen», so Korrespondentin Huber. «Das ist sicher ein sehr wichtiger Faktor, der Männer motivieren könnte, sich einer Mobilisierung nicht zu entziehen.» Ob dies reichen wird und sich genügend Soldaten einziehen und ausbilden lassen, sei derzeit aber unklar.
Die Stimmung in der Ukraine: «Es gibt innerhalb der Ukraine eine wachsende Kluft zwischen denen, die bereits Dienst leisten, und denen, die das eben bis jetzt nicht tun», erklärt Huber. «Man macht sich gegenseitig Vorwürfe.» Auslandsukrainer stünden derweil noch mehr im Verdacht, sich «unpatriotisch» zu verhalten. Auch wenn viele davon laut Huber dem eigenen Land anderweitig helfen, etwa durch Spenden. Aber die Diskussion werde geführt: «Da schwingt sicher Unmut, vielleicht sogar so etwas wie Rachsucht und auch eine Menge Populismus mit.»
Eine ukrainische Perspektive: Der ukrainisch-schweizerische Doppelbürger Sasha Volkov sieht in der aktuellen Massnahme bestimmte demokratische Freiheiten eingeschränkt. Doch in einem Krieg müsse man abwägen: «Es gibt Entscheidungen, die schlecht sind, und es gibt Entscheidungen, die sehr schlecht sind.» Volkov hält fest: «Der Druck wird nicht von der Regierung ausgeübt. Der Druck kommt vom Aggressorstaat.»