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Wirtschaft im Westjordanland Droht der palästinensischen Wirtschaft der Kollaps?

Der Gazakrieg verschärft die Lage im Westjordanland: Die USA befürchten einen wirtschaftlichen Zusammenbruch und das Ende der palästinensischen Autonomiebehörde. Die wirtschaftliche Not ist gross. Ein Blick nach Ramallah.

Das Schuhgeschäft im Zentrum von Ramallah versprüht einen Hauch von Paris oder Mailand: Das gepflegte Schaufenster mit seinen eleganten Damenschuhen und edlen Handtaschen sticht zwischen den einfacheren Läden heraus. Es hat keine Kundschaft an diesem späten Vormittag. «Nur du und ich», lacht die 22-jährige Verkäuferin Aya. «Ich habe schon noch Kundschaft, aber die meisten kaufen lieber nichts. Das Wichtigste für die Leute ist, dass sie ihre Kinder ernähren können.»

Frau lächelt an der Rezeption eines Schuhgeschäfts.
Legende: «Die Jungen wollen alle ins Ausland. Hier gibt es keine Zukunft», sagt Schuhverkäuferin Aya. SRF

Im Kinderwarenladen gleich nebenan klingt es nicht besser. «Seit heute Morgen um 7 Uhr haben wir gerade mal 10 Shekel eingenommen», sagt eine der beiden Verkäuferinnen. Das sind nicht einmal 3 Franken. Und jetzt ist schon bald Mittag.

Der Schein trügt

Im Gegensatz zu den Läden sind die meisten Cafés in Ramallah voll: sowohl morgens wie abends. Man bekommt den Eindruck, die Warnungen der Weltbank vor dem Kollaps der palästinensischen Wirtschaft seien übertrieben.

Ibrahim Rabaya widerspricht. Der Professor für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Birzeit Universität sitzt selbst in einem Café am Stadtrand. «Die Not ist gross im Westjordanland. Nur gibt es in Ramallah eine Mittelschicht, bei denen man diese Not nicht auf den ersten Blick sieht. Sie haben vielleicht ein gutes Auto, aber sie müssen es stehenlassen, weil sie kein Geld für Benzin haben. Oder sie verkaufen es, damit sie ihren Lebensstil noch länger aufrechterhalten können, weil sie denken, die Krise und der Krieg seien irgendwann vorbei.»

Mann sitzt in einem Café vor einem Verkaufsbereich mit Gebäck.
Legende: Ibrahim Rabaya, Professor für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen: «Wenn die internationale Gemeinschaft nicht interveniert, droht eine blutige Eskalation.» SRF

Der Professor ist jedoch überzeugt: Diese Krise sei nicht wie andere, welche die Palästinenserinnen und Palästinenser in der Vergangenheit erlebt hätten. Diese Krise werde das Westjordanland grundlegend und dauerhaft verändern. Denn seit dem 7. Oktober seien die drei Pfeiler der palästinensischen Wirtschaft weggebrochen. Wer vor dem Krieg eine Stelle in Israel hatte, habe diese verloren, sagt Rabaya.

Die Menschen versuchen irgendwie zu überleben.
Autor: Ibrahim Rabaya Professor (Politikwissenschaften und internationale Beziehungen)

Israel lässt rund 140’000 palästinensische Pendler nicht mehr einreisen und ersetzt diese jetzt durch Arbeitskräfte aus Indien, zum Beispiel. Die Weltbank schreibt: 300'000 Palästinenserinnen und Palästinenser hätten im Westjordanland ihre Stelle verloren.

Nachtszene von belebter Strasse mit Lichtern über den Geschäften hängend.
Legende: Das Nachtleben in Ramallah ist belebt. Der Schein trügt jedoch: Auch die Mittelschicht spürt die Not immer mehr. SRF

Palästinensische Beamte haben zwar noch eine Stelle, aber sie erhalten kaum mehr Lohn. Denn Israel hält Steuereinnahmen für die Palästinensische Autonomiebehörde zurück.

«Die Menschen versuchen irgendwie zu überleben», sagt der Professor. Aber der Krise auszuweichen sei schwieriger geworden. Israel droht, die palästinensischen Banken vom internationalen Finanzsystem abzuschneiden – und teilweise ist das auch schon passiert. Das würge die Wirtschaft zusätzlich ab und gefährde das Überleben der palästinensischen Banken. Wer kann, versucht aus dem Westjordanland herauszukommen und in den Golfstaaten oder anderswo Arbeit zu finden.

Blick auf Häuserfassade mit Graffiti von Gesicht in einer Strasse.
Legende: Immer mehr Palästinenserinnen und Palästinenser im besetzten Westjordanland haben Mühe, sich finanziell über Wasser zu halten. SRF

Der Professor für Politikwissenschaften warnt Israel und die Welt davor, dieser Entwicklung tatenlos zuzuschauen. Hunderttausende von perspektivlosen Palästinensern und gleichzeitig extremistische, bewaffnete Siedler, welche keinen Hehl daraus machen, dass sie die Palästinenser vertreiben wollen: ein Rezept für eine weitere Katastrophe, sagt Ibrahim Rabaya. «Das wird blutig enden, wenn die internationale Gemeinschaft nicht irgendwie interveniert.»

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Rendez-vous, 23.08.2024, 12:30 Uhr

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