Jüdische junge Männer und Frauen sind in Israel verpflichtet, Militärdienst zu leisten – mit Ausnahme der Ultraorthodoxen. Die strenggläubigen Juden sind von der Dienstpflicht befreit. Diese Sonderregelung sorgt in Israel seit Jahrzehnten für Diskussionen – der Ausbruch des Gazakriegs gibt ihr zusätzliche Brisanz. Nun könnte das Thema zur Zerreissprobe für die Regierung werden. Auslandredaktorin Susanne Brunner mit den Hintergründen.
SRF News: Warum sind Ultraorthodoxe vom Dienst dispensiert?
Susanne Brunner: Verallgemeinern kann man in Israel eigentlich gar nichts. Tendenziell hatten Ultraorthodoxe aber seit jeher Mühe, die Idee eines menschengemachten jüdischen Staates mit ihrem Glauben zu vereinbaren. Sie beteten zwar für immer eine Rückkehr nach Jerusalem, aber sie glaubten – oder glauben bis heute – dass nur der Messias diesen jüdischen Staat schaffen kann. In dieser Vorstellung pfuscht der Mensch dem Messias ins Handwerk – das kommt für sie Blasphemie gleich. Die Logik bei der Staatsgründung Israels war dann: Menschen, die gar nicht an den jüdischen Staat glauben, kann man nicht in eine Armee zwingen.
Die Sonderregelung gibt es bereits seit der Staatsgründung 1948. Warum ist sie zum Problem geworden?
Als Israel als Staat gegründet wurde, waren nur ein paar Prozent der Bevölkerung Ultraorthodoxe. Heute sind es rund 14-15 Prozent. Eine durchschnittliche ultraorthodoxe Familie hat mehr als sechs Kinder, im Vergleich zu zwei Kindern bei nicht oder weniger Religiösen. Der Staat subventioniert Ultraorthodoxen das Tora-Studium – und das sorgt bei der weltlicheren Bevölkerung für Unmut. Denn diese bezahlt den Löwenanteil der Steuern und bekommt viel weniger Leistungen als die Strengreligiösen, die kaum Steuern bezahlen, weil die meisten ultraorthodoxen Männer gar keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Diese Ungleichheit spaltet die israelische Bevölkerung seit Jahrzehnten immer wieder von Neuem. Auch wenn ein Konsens herrscht: Ultraorthodoxe gehören zum Judentum.
Israel befindet sich im Krieg. Führt das auch dazu, dass sich die Spannungen wegen der Ungleichbehandlung bei der Militärdienstpflicht zuspitzen?
Mehr als 300 israelische Soldatinnen und Soldaten sind im Gazastreifen getötet, 3000 verletzt worden. Israel hat Hunderttausende Reservesoldatinnen und -soldaten aufgeboten, die ihre Familien zurücklassen und ihrer Arbeit fernbleiben mussten. Nun soll auch noch die Länge des Militärdienstes für Frauen und Männer erhöht werden, ebenso das Alter, bei dem man noch als Reservist aufgeboten werden kann. Kein Wunder sind 70 Prozent der Bevölkerung gegen eine pauschale Befreiung der Ultraorthodoxen von der Militärdienstpflicht – erst recht in Kriegszeiten. Sie finden es schlicht unfair.
Einer der höchsten Rabbiner sagte, ultraorthodoxe Juden würden ins Ausland ziehen, wenn man sie in die Armee zwingen würde. Was ist von dieser Drohung zu halten?
Sie ist, mit allem Respekt, arrogant. In Kriegszeiten zu drohen: «Wir verlassen das Land, wenn wir Militärdienst leisten müssen», zeugt davon, wie realitätsfremd dieser Rabbiner ist, dessen Partei in der Regierung sitzt. Auch wenn sein Argument ist, dass Beten auch Landesverteidigung sei. Es ist auch nicht realistisch, dass Zehntausende von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden Israel verlassen: gerade auch, weil sie der Staat ja grosszügig subventioniert.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.