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Israel: Militärdienst für Ultraorthodoxe wird zum Politikum
Aus Echo der Zeit vom 25.03.2024. Bild: Keystone/ATEF SAFADI
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Zerreissprobe für Regierung Wehrdienst für Ultraorthodoxe: Gaza-Krieg befeuert alten Streit

Jüdische junge Männer und Frauen sind in Israel verpflichtet, Militärdienst zu leisten – mit Ausnahme der Ultraorthodoxen. Die strenggläubigen Juden sind von der Dienstpflicht befreit. Diese Sonderregelung sorgt in Israel seit Jahrzehnten für Diskussionen – der Ausbruch des Gazakriegs gibt ihr zusätzliche Brisanz. Nun könnte das Thema zur Zerreissprobe für die Regierung werden. Auslandredaktorin Susanne Brunner mit den Hintergründen.

Susanne Brunner

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandsredaktion von Radio SRF.

SRF News: Warum sind Ultraorthodoxe vom Dienst dispensiert?

Susanne Brunner: Verallgemeinern kann man in Israel eigentlich gar nichts. Tendenziell hatten Ultraorthodoxe aber seit jeher Mühe, die Idee eines menschengemachten jüdischen Staates mit ihrem Glauben zu vereinbaren. Sie beteten zwar für immer eine Rückkehr nach Jerusalem, aber sie glaubten – oder glauben bis heute – dass nur der Messias diesen jüdischen Staat schaffen kann. In dieser Vorstellung pfuscht der Mensch dem Messias ins Handwerk – das kommt für sie Blasphemie gleich. Die Logik bei der Staatsgründung Israels war dann: Menschen, die gar nicht an den jüdischen Staat glauben, kann man nicht in eine Armee zwingen.

Die Sonderregelung gibt es bereits seit der Staatsgründung 1948. Warum ist sie zum Problem geworden?

Als Israel als Staat gegründet wurde, waren nur ein paar Prozent der Bevölkerung Ultraorthodoxe. Heute sind es rund 14-15 Prozent. Eine durchschnittliche ultraorthodoxe Familie hat mehr als sechs Kinder, im Vergleich zu zwei Kindern bei nicht oder weniger Religiösen. Der Staat subventioniert Ultraorthodoxen das Tora-Studium – und das sorgt bei der weltlicheren Bevölkerung für Unmut. Denn diese bezahlt den Löwenanteil der Steuern und bekommt viel weniger Leistungen als die Strengreligiösen, die kaum Steuern bezahlen, weil die meisten ultraorthodoxen Männer gar keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Diese Ungleichheit spaltet die israelische Bevölkerung seit Jahrzehnten immer wieder von Neuem. Auch wenn ein Konsens herrscht: Ultraorthodoxe gehören zum Judentum.

Eine heterogene Gemeinschaft

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Legende: Keystone/AP/EMILIO MORENATTI

Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist im Wandel. Es gibt immer mehr Frauen und Männer, die sich am Arbeitsprozess beteiligen, einige Hundert leisten auch Militärdienst. Allerdings sind das Ultraorthodoxe, welche den Zionismus begrüssen und bereit sind, für den jüdischen Staat zu kämpfen. Diese gehören jedoch eher zu den nationalistischen Ultraorthodoxen – also zu jener Gruppierung, die Siedlungen befürwortet – auch im Gazastreifen.

Israel befindet sich im Krieg. Führt das auch dazu, dass sich die Spannungen wegen der Ungleichbehandlung bei der Militärdienstpflicht zuspitzen?

Mehr als 300 israelische Soldatinnen und Soldaten sind im Gazastreifen getötet, 3000 verletzt worden. Israel hat Hunderttausende Reservesoldatinnen und -soldaten aufgeboten, die ihre Familien zurücklassen und ihrer Arbeit fernbleiben mussten. Nun soll auch noch die Länge des Militärdienstes für Frauen und Männer erhöht werden, ebenso das Alter, bei dem man noch als Reservist aufgeboten werden kann. Kein Wunder sind 70 Prozent der Bevölkerung gegen eine pauschale Befreiung der Ultraorthodoxen von der Militärdienstpflicht – erst recht in Kriegszeiten. Sie finden es schlicht unfair.

Droht die israelische Regierung zu zerbrechen?

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Das höchste Gericht in Israel hat bereits 2017 entschieden, dass die Ausnahmeregelung diskriminierend und damit nicht legal ist. Nun sollte die Regierung bis Ende März eine Lösung präsentieren. Was die Regierung genau vorschlägt, hat sie noch nicht öffentlich bekanntgegeben. Israelische Medien berufen sich jedoch auf Indiskretionen, wonach die Privilegien für Ultraorthodoxe ausgebaut werden sollen; andere berichten von einer bestimmten Quote – also einer minimalen Anzahl von ultraorthodoxen Männern, die jährlich Militärdienst leisten müssten.

Benny Gantz, Minister des Kriegskabinetts, hat gedroht, die Regierung zu verlassen, falls die Ultraorthodoxen weiterhin vom Militärdienst befreit blieben. Droht nun die Regierung zu zerbrechen? Sollte dies geschehen, dann nicht alleine an der Militärdienstpflicht-Kontroverse, schätzt Susanne Brunner: «Viel brennender sind Fragen, warum Regierungschef Benjamin Netanjahu sowie die Armee- und die Geheimdienstführung überhaupt nicht vorbereitet waren auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober.»

Viele Israeli würden sich einen anderen Premierminister als Netanjahu wünschen, so Brunner. «Dass eine Mehrheit der Bevölkerung keine grosszügigen Ausnahmen für Ultraorthodoxe bei der Militärdienstpflicht will, könnte da höchstens der sprichwörtliche Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.» Kommt hinzu: Gantz ist nicht Teil der Regierung, sondern Minister im notfallmässig zusammengeschusterten Kriegskabinett. Ihn könnte und würde die Regierung sicher auch ersetzen, schliesst Brunner.

Einer der höchsten Rabbiner sagte, ultraorthodoxe Juden würden ins Ausland ziehen, wenn man sie in die Armee zwingen würde. Was ist von dieser Drohung zu halten?

Sie ist, mit allem Respekt, arrogant. In Kriegszeiten zu drohen: «Wir verlassen das Land, wenn wir Militärdienst leisten müssen», zeugt davon, wie realitätsfremd dieser Rabbiner ist, dessen Partei in der Regierung sitzt. Auch wenn sein Argument ist, dass Beten auch Landesverteidigung sei. Es ist auch nicht realistisch, dass Zehntausende von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden Israel verlassen: gerade auch, weil sie der Staat ja grosszügig subventioniert.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Krieg im Nahen Osten

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Die Konflikte in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen halten an. Hier finden Sie alle unsere Inhalte zum Krieg im Nahen Osten.

Echo der Zeit, 25.03.2024, 18 Uhr;

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