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Zwangsferien fürs Parlament «Johnsons Manöver hinterlässt einen schalen Nachgeschmack»

Ein Premier will das Parlament ausschalten – und das ausgerechnet in dem Land, in dem die parlamentarische Demokratie erfunden wurde. Bis kurz vor dem entscheidenden 31. Oktober, an dem Grossbritannien aus der EU auszutreten gedenkt, soll das Parlament in Zwangsferien verweilen.

Martin Alioth

Ehemaliger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent, SRF

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Der ehemalige Grossbritannien- und Irland-Korrespondent von Radio SRF lebt seit 1984 in Irland. Er hat in Basel und Salzburg Geschichte und Wirtschaft studiert.

SRF News: Boris Johnson will das Parlament ausschalten. Darf er das?

Martin Alioth: Das darf er. Unter normalen Umständen wäre das reine Routine. Ein britisches Parlament wird zwar für fünf Jahre vom Volk gewählt. Aber es ist herkömmlich, dass jeden Herbst eine neue Session mit einer Thronrede der Queen eingeleitet wird. Der Premierminister beantragt das bei der Queen, die heute zugestimmt hat; das Parlament hat dabei keine Mitsprache. Das fliesst aus königlichen Vollmachten des Premierministers.

Wir leben aber nicht in normalen Zeiten. Das Unterhaus soll während vier Wochen, länger als normal, verstummen – und muss darauf verzichten,den Verlauf des Brexit zu beeinflussen. Der Zeitpunkt ist auch nicht zufällig: Gestern hatten sich sämtliche Oppositionsparteien auf eine Strategie geeinigt, wie der Absturz in einen vertragslosen Zustand auf gesetzlichem Weg verhindert werden könnte.

Es ist also ein Kampf zwischen Exekutive und Legislative?

Ja. Mit der britischen komplexen Verfassung muss man bedenken, dass im Vereinigten Königreich die Regierung nicht einfach der Exekutivausschuss des Parlaments ist, sondern sie auch gewisse ausserparlamentarische Kompetenzen aus der Krone ableitet.

Wie reagiert die Opposition?

Empörung prägt alle Reaktionen. Es werden Grabgesänge auf die britische Demokratie abgehalten. Der Präsident des Unterhauses John Bercow sprach von einem «constitutional outrage», einem Frevel an der Verfassung. Die Labour-Partei nannte es einen Staatsstreich. Das Manöver Johnsons hinterlässt einen schalen Nachgeschmack.

Goutieren die Tories das Vorgehen ihres Anführers?

Die Brexiteers zollen Johnson Beifall für diese glasklare Linie, die Rebellen kritisieren. Die pro-europäischen Tory-Abgeordneten hatten in den letzten Tagen sichtlich weiche Knie bekommen. Die konservativen Pro-Europäer wissen, dass ihnen nur die nächste Woche zur Verfügung steht, um einen vertragslosen Zustand zu verhindern.

Am Dienstag trifft das Parlament nach der Sommerpause wieder zusammen. Welche Strategie wird es verfolgen?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ein Misstrauensvotum, das nach einer 14-tägigen Abkühlungsphase zu Neuwahlen führen könnte. Aber das ist sehr prekär, ob eine alternative Regierung gebildet werden könnte. Ich glaube, dass die Oppositionsstrategie bleibt, wie sie gestern beschlossen wurde: ein Gesetz erlassen, was eine Verlängerung des Austrittsdatums erzwingt. Der Ausgang des Seilziehens kann nur von Toren und Hellsehern vorausgesagt werden – wir Sterblichen müssen abwarten, was geschieht.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

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