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Ausbruch des Coronavirus «Die Pest hatte ganz eine andere Dimension»

Es liegt beim Coronavirus nahe, Parallelen zu hochansteckenden Krankheiten aus der Vergangenheit zu suchen, etwa zur Pest im 14. Jahrhundert. Doch das neuartige Coronavirus ist nicht wirklich mit jener Krankheit vergleichbar, die in Europa im Mittelalter ganze Landstriche entvölkerte, sagt Medizinhistoriker Flurin Condrau von der Universität Zürich.

Flurin Condrau

Professor für Medizingeschichte

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Condrau ist ordentlicher Professor am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte an der Universität Zürich. Das Institut ist interdisziplinär ausgerichtet und beteiligt sich an der Forschung und Lehre an der Medizinischen und an der Philosophischen Fakultät.

SRF News: Wieso kann man das Coronavirus nicht mit der Pest im Mittelalter vergleichen?

Flurin Condrau: Ein einfacher Vergleich zwischen Coronavirus und Pest funktioniert aus mehreren Gründen nicht. Erstens hatte die Pest ganz andere Dimensionen. Wir schätzen, dass ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der damaligen Bevölkerung Europas Opfer der Pest wurde. Von einer solchen Grössenordnung gehen selbst die schlimmsten Szenarien beim Coronavirus nicht aus.

Zu sterben hiess im Mittelalter, ins Himmelreich überzugehen. Es wurde ganz anders bewertet als heute.

Der zweite Unterschied ist, dass wir uns bei Corona erst am Anfang befinden, während wir fast 700 Jahre Zeit hatten, die mittelalterliche Pest zu erforschen und diese Zahlen zu behaupten.

Drittens war die Welt damals eine andere. Religion war die oberste kulturelle Einrichtung. Zu sterben hiess damals, ins Himmelreich überzugehen. Es wurde ganz anders bewertet als heute.

Womit lässt sich die Corona-Epidemie denn vergleichen?

Grundsätzlich ist es so, dass die Vergleichbarkeit dann am besten ist, wenn die zu vergleichenden Ereignisse nicht so weit auseinanderliegen. Mein erster Vergleich wäre der mit der Schweinegrippe 2009 oder mit der Sars-Pandemie 2003. Wenn man noch etwas weiter zurückgehen will, könnte man sich die Asiatische-Influenza-Pandemie von 1957 anschauen oder die sogenannte Hongkong-Flu-Pandemie von 1968.

Die chinesische Millionenstadt Wuhan wurde unter Quarantäne gestellt. Hat es etwas Ähnliches schon mal gegeben?

Die aktuellen Quarantäne-Massnahmen in China und Italien sind sicherlich die grössten Quarantäne-Massnahmen sind, die in der Weltgeschichte je versucht worden sind.

Quarantäne war für die Venezianer ein Weg, Fremde speziell zu behandeln. Für Venezianer galt die Quarantäne nämlich nicht.

Quarantäne als Massnahme war eine Antwort auf die Pest im Spätmittelalter. Ihren Ursprung hat sie in Venedig. Vierzig Tage (ital. quaranta giorni) sollten Reisende aus dem Ausland auf den vorgelagerten Inseln Venedigs warten, bevor sie in die Stadt hineingelassen wurden. Quarantäne war aber für die Venezianer auch ein Weg, Fremde speziell zu behandeln. Für Venezianer galt die Quarantäne nämlich nicht.

Eine Begleiterscheinung bei Seuchen war immer, dass nach Schuldigen gesucht wird. Stimmt dieser Eindruck?

Zu ansteckenden Krankheiten gehören tatsächlich immer diese Schuldzuweisungen. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit lösten sie vor allem Judenpogrome aus. Das heisst, man hat auf eine lokale Pestseuche mit der Ermordung von Juden reagiert.

Bei der Cholera-Epidemie des 19. Jahrhunderts waren es einerseits die asiatischen Länder, aus denen die Cholera angeblich gekommen sei, andererseits hat man auch die Ärzte vor Ort für Vergiftungen der Umwelt verantwortlich gemacht und sie so zu Sündenböcken gestempelt. Und im Zusammenhang mit der Tuberkulosebekämpfung wurden an der Grenze Hindernisse aufgebaut, weil man meinte, dass vor allem die Ausländer die Tuberkulose in die Schweiz bringen. Nun ist man wieder bei den Chinesen angekommen.

Interessant ist aber die Schweinegrippe: Sie kam aus Mittelamerika. Da hat niemand nach Sündenböcken gesucht.

Das Gespräch führte Anneliese Tenisch.

SRF 4 News, 10.03.2020; 07:24 Uhr ; 

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