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Bundesrats-Entscheid Um jeden Preis eine gewisse Normalität schaffen

Der Bundesrat hat sich mit dem Entscheid, Grossveranstaltungen mit über 1000 Besuchern ab Oktober wieder zuzulassen, über die Bedenken der meisten Kantone und auch der eigenen wissenschaftlichen Taskforce hinweggesetzt.

Und das am Tag, an dem die höchste Zahl von Neu-Infektionen seit Aufhebung des Lockdowns bekannt gegeben wurde. Man kann das mutig oder fahrlässig nennen. Der Schluss liegt nahe, dass das massive Lobbying der Sportverbände und der Kulturbranche in den letzten Wochen gewirkt hat und der Bundesrat eingeknickt ist.

Bundesrat will gewisse Normalität

Wenn man die heutige Medienkonferenz aber genauer verfolgt hat, ist eine andere Folgerung wahrscheinlicher: Der Bundesrat will um jeden Preis eine gewisse Normalität schaffen im Land. Das Virus wird nicht so schnell verschwinden, das betonen die Regierungsmitglieder bei jeder Gelegenheit, und deshalb müssen wir uns an ein Leben mit dem Virus gewöhnen.

Dazu gehört aus Sicht des Bundesrats auch, dass wir in diesem neuen normalen Leben Fussballspiele, Rockkonzerte und Messeveranstaltungen besuchen können. Dafür ist man bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, oder wie es die Bundespräsidentin heute an der Medienkonferenz ausgedrückt hat: Je grösser die Lockerungen sind, desto grösser ist die Verantwortung.

Verantwortung tragen andere

Doch diese Verantwortung gibt man gleich weiter; an die Kantone, die die Veranstaltungen bewilligen, die Schutzkonzepte kontrollieren und das Contact Tracing sicherstellen sollen; an die Veranstalter, die die Schutzkonzepte erstellen und dafür geradestehen müssen; und auch an uns alle, die Besucherinnen und Besucher der Konzerte, Matches und Messen, die wir uns verantwortungsvoll zu verhalten haben.

Das ist nicht grundsätzlich falsch in einem Land, in dem Föderalismus und Selbstverantwortung mehr zählen als in vielen anderen Ländern. Wenn man aber in den letzten Wochen erlebt hat, wie schnell Kantone mit dem Contact-Tracing an den Anschlag kommen, oder wie viele Menschen auf den Strassen und an Veranstaltungen schon jetzt wieder tun, als ob es nie ein Corona gegeben hat: Dann fragt man sich, ob das nicht etwas zu viel Verantwortung ist, die der Bundesrat da abschiebt.

Urs Leuthard

Leiter Bundeshausredaktion

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Seit Sommer 2020 ist Urs Leuthard Leiter der Bundeshausredaktion von Fernsehen SRF. Bereits seit 2002 moderiert er das «Abstimmungsstudio» und analysiert Wahlen und Abstimmungen. Bis 2008 war er Moderator und Redaktionsleiter der «Arena», danach wechselte er zur «Rundschau», bevor er 2012 die Redaktionsleitung der «Tagesschau» übernahm.

Hier finden Sie weitere Artikel von Urs Leuthard und Informationen zu seiner Person.

Tagesschau, 12.8.2020, 18:00 Uhr

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