Mit so einem Abstimmungskrimi hat kaum jemand gerechnet: Nur hauchdünn sagt die Stimmbevölkerung Ja zur elektronischen Identität. Diese soll es künftig einfacher machen, sich im Internet gegenüber Behörden und Unternehmen auszuweisen. Doch diese 50.4 Prozent Ja-Stimmen müssen einigen zu denken geben.
Denkzettel an Adresse des Ja-Lagers
Zu denken geben muss dieses äusserst knappe Resultat dem Bundesrat und der Parlamentsmehrheit. Denn die Vorlage war sehr breit abgestützt: Der Bundesrat setzte sich für ein Ja ein. Bei den Parteien reichte die Unterstützung von den Grünen und der SP über die GLP und die Mitte bis zur FDP. Einzig die Delegierten der SVP beschlossen die Nein-Parole. Diesem breiten Bündnis reicht es nur zu einem haarscharfen Sieg. Es ist dem Ja-Lager nicht gelungen, seine Anhängerinnen und Anhänger vollständig davon zu überzeugen, dass es eine E-ID braucht, dass sie den Bürgerinnen und Bürgern genügend Vorteile bringt.
Zu denken geben muss der Abstimmungskrimi aber auch den Digitalisierungsbefürwortern und der Wirtschaft. Gruppierungen wie Digital Switzerland, die sich für eine digitale Schweiz einsetzen, und die Wirtschaftsverbände kommen mit einem blauen Auge davon. Sie wollten die Bevölkerung vom Nutzen der digitalen Identität überzeugen. Doch beinahe wären sie an dieser Aufgabe gescheitert. Sie haben keine ganze Arbeit geleistet.
Achtungserfolg für Gegnerschaft
Einen Achtungserfolg erzielen hingegen die ablehnenden Gruppierungen wie die Digitale Integrität, die Freunde der Verfassung und Mass-Voll und die Junge SVP. Es ist ihnen gelungen, mit ihrer Kritik breite Kreise zu erreichen. Insbesondere zwei Bedenken trieben sie an: Würde die E-ID – einmal eingeführt – wirklich freiwillig bleiben oder würde sich mit der Zeit ein Zwang entwickeln, sie anzuwenden? Und würden Daten von Internet-Nutzerinnen und -Nutzern wirklich nicht zu den grossen Tech-Konzernen wie Google wandern? Das Misstrauen gegenüber der E-ID wäre beinahe mehrheitsfähig geworden.
Dabei hatten Bundesrat und Parlament eigentlich die Lehren gezogen aus der Niederlage beim ersten Anlauf von 2021: Sie wechselten von einer privaten zu einer staatlichen Lösung für die E-ID. Sie verbesserten den Datenschutz und die Datensparsamkeit der E-ID. Und sie bezogen von Anfang an Kritikerinnen und Kritiker ins Projekt ein. Insgesamt müssen sie sich jedoch vorwerfen lassen, beinahe zu wenig Überzeugungsarbeit geleistet zu haben, sodass die Vorlage fast noch auf der Ziellinie gescheitert wäre.
Das ist kein gutes Zeichen für weitere Digitalisierungsvorhaben in der Schweiz: etwa das elektronische Patientendossier oder E-Collect, das elektronische Sammeln von Unterschriften beispielsweise für Volksinitiativen. Das offenbar verbreitete Misstrauen gegenüber Digitalisierungsprojekten sollten die Befürworterinnen und Befürworter ernst nehmen und mehr investieren, um ihre Argumente besser zu erklären. Sonst schrammt die nächste Digitalisierungsvorlage nicht knapp an der Niederlage vorbei, sondern erleidet Schiffbruch…