Im Bürohaus des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes befanden sich früher die Redaktionsräume der Berner Tagwacht. Im sozialdemokratischen Parteiblatt rief vor 100 Jahren Chefredaktor Robert Grimm zum Landesstreik auf. Dieser Arbeitskampf habe die Schweiz grundlegend verändert, sagt der heutige Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner. «Der Landesstreik war das grösste innenpolitische Ereignis der Schweiz im 20. Jahrhundert und der Aufbruch in den Sozialstaat.»
Im Jahr 2000 wurden die bilateralen Verträge von einer klaren Volksmehrheit angenommen, weil die Gewerkschaften damals einen neuen Schutz der Löhne durchsetzten.
Diesen Aufbruch hätten nicht nur ein paar grosse Figuren wie der Arbeiterpolitiker Grimm ermöglicht. «Es war eine grosse, vielfältige Bewegung mit vielen Menschen.» Die Erkenntnis sei folgende: «Wenn man zusammensteht, hat man auch etwas zu melden.» Nur im Kollektiv sind die Schwachen stark: Das ist die Leitlinie des Gewerkschafters und Politikers Rechsteiner. Das schliesst aber nicht aus, persönlich Verantwortung zu übernehmen.
Linker Ständerat in bürgerlichem Kanton
Vor 44 Jahren gewann Rechsteiner zum ersten Mal eine Wahl, und zwar in den Gemeinderat der Stadt St. Gallen. Zwei Jahre später zog er in den Kantonsrat und 1986 in den Nationalrat ein. Es war eine steile, aber nicht aussergewöhnliche Karriere. Das wurde sie erst 2011, als dem Gewerkschaftslinken Rechsteiner im durch und durch bürgerlichen Kanton St. Gallen der Sprung in den Ständerat gelang. Seine geduldige und kontrollierte Art des Politisierens überzeugte weit mehr Leute als die 20 Prozent Linken und Grünen im Kanton.
Selbst harte Vorwürfe an den politischen Gegner spricht Paul Rechsteiner ruhig und gelassen aus: «Die beiden freisinnigen Bundesräte vertreten eine Position, die sowohl den Schweizer Arbeitnehmenden als auch den EU-Arbeitnehmenden in der Schweiz schadet. Umso skandalöser ist es, dass sie die rote Linie des Bundesrates brechen.»
«Fiasko wie 1992 verhindert»
Indem sie den Lohnschutz für Arbeitskräfte in der Schweiz in Frage stellen würden, übernähmen die Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis die neoliberale Politik der EU-Kommission. Das sei ein Skandal und ein Verrat, poltert Rechsteiner – oder poltert eben nicht, sondern argumentiert in grossen historischen Bögen: «Im Jahr 2000 wurden die bilateralen Verträge von einer klaren Volksmehrheit angenommen, weil die Gewerkschaften damals einen neuen Schutz der Löhne durchsetzten.»
Die beiden freisinnigen Bundesräte vertreten eine Position, die den Schweizer Arbeitnehmenden schadet.
Ohne flankierende Massnahmen, ohne Kontrollen, ob auch ausländische Firmen Schweizer Löhne bezahlen, hätten die Gewerkschaften niemals für die Personenfreizügigkeit gestimmt. Ein Fiasko wie 1992 bei der EWR-Abstimmung wäre die Folge gewesen, ist Rechsteiner überzeugt. Dies sei bis vor Kurzem auch den Wirtschaftsvertretern klar gewesen.
Die radikale Seite Rechsteiners
Wenn jetzt wichtige Exponenten den Lohnschutz wieder in Frage stellen würden, sei die Zeit für sozialpartnerschaftliche Verhandlungen vorbei. «Zum ersten Mal in meinen 20 Jahren als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes war ich gezwungen, zu sagen, dass wir bei dieser Übung nicht mitmachen.» Hier klingt sie an: die radikale Seite des Paul Rechsteiner, die er sonst eher in Sitzungen, an runden Tischen und in Kommissionen vertritt und weniger in der Öffentlichkeit.
Ein Volkstribun wie einst Robert Grimm war Rechsteiner nie und will es auch nicht sein. Und noch eine Leistung des alten Arbeiterführers wird er kaum je erreichen: Grimm sass 44 Jahre im nationalen Parlament. Damit gleichzuziehen, sei nicht sein Ziel, beteuert Rechsteiner und deutet zum ersten Mal ein Lächeln an. «Robert Grimm hat für seine Zeit eine ganz grosse Rolle gespielt – letztlich beruht die Stärke und die Kraft der Bewegung aber auf der Vielfalt und dem Engagement vieler.»
Er will es noch einmal wissen
Mit inzwischen 32 Amtsjahren ist Rechsteiner immerhin der momentan dienstälteste Parlamentarier in Bern, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Das Gewerkschaftsbundpräsidium gibt er Ende November zwar ab, aber zu den Ständeratswahlen nächstes Jahr tritt er noch einmal an.