«Was haben wir? Wir haben Nichts!» Mit hochrotem Kopf stand Albert Rösti nach fünfstündiger Debatte am Rednerpult des Nationalrats. Der sonst so kontrollierte SVP-Präsident rang sichtlich um Fassung. Soeben hatte die Grosse Kammer die Minimalvariante zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gutgeheissen: eine unverbindliche Meldepflicht für offene Stellen. Es war das Ende einer denkwürdigen Debatte.
Auch wenn das Schauspiel im Nationalrat eher einem hässlichen Familienkrach glich. Und manches, so etwa die Selbstbespiegelung der SVP (siehe Video) etwas gar einstudiert wirkte: Der Unterhaltungswert der «Mutter aller Debatten» überflügelte denjenigen des Schweizer Tatorts zum Thema Sterbehilfe locker.
Zum Zeremonienmeister der Redeschlacht wurde SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz: «Sie sind die Totengräber der direkten Demokratie!», schmetterte der Berner Oberländer der versammelten Parteienlandschaft entgegen. Die Ratslinke nahm den Fehdehandschuh nur allzu gerne auf. «Sie selbst verletzen den Volkswillen!», polterte Cédric Wermuth (SP/AG) zurück: «Sie haben seit der Annahme der Initiative nichts als Arbeitsverweigerung geleistet!»
Ein in Hochglanz verpackter Verfassungsbruch.
Zur eigentlichen Zielscheibe der SVP wurde Kurt Fluri, FDP-Nationalrat und Vordenker einer sanften Umsetzung der Zuwanderungsinitiative. Der Solothurner Stadtpräsident quittierte die Angriffswellen der Volkspartei mit einem bürgerlichen Schulterzucken: «Manche Ihrer Voten waren mir einfach zu dumm. Da stellt man die Ohren am besten auf Durchzug.»
Es war der unversöhnliche Schlusspunkt einer Debatte, die der Ständerat – dann wohl gesitteter – in der Wintersession fortführen wird. Ob er die Suche nach dem Ei des Kolumbus – Drosselung der Zuwanderung und Burgfrieden mit Brüssel – erfolgreicher gestaltet, wird sich weisen. Absichtserklärungen liegen vor.
Das liebe Geld
Während der Zuwanderungsdebatte erklärte BDP-Präsident Martin Landolt die «Fachkräfteinitiative» zum Kandidaten für das Unwort des Jahres. Die SVP geht mit dem «Inländervorrang light» ins Rennen. Doch auch der «Rotstift» hat intakte Chancen: Sparen, Sparen, Sparen heisst das Credo in Bundesbern – aber bloss nicht bei der eigenen Klientel.
Im Nationalrat liess die (zumindest in Finanzfragen geeinte) bürgerliche Front die Muskeln spielen: SVP und CVP sorgten dafür, dass die Bauern ungeschoren davonkommen; beim Armeebudget verhinderten die Bürgerlichen geschlossen Einschnitte. Im Ständerat fielen zudem Sparanträge im Bildungsbereich sowie der Entwicklungshilfe durch – zur Freude der Linken.
Finanzminister Ueli Maurer geisselte die Parlamentarier in der Debatte zum Stabilisierungsprogramm des Bundesrats: «Sie haben gesündigt!» Ivo Bischofberger, Vizepräsident des Ständerats, leistete Abbitte: «Wir streuen Asche auf unser Haupt».
Rentenreformer und Energiestrategen
In der zweiten Sessionswoche erteilte der Nationalrat Helikopterpiloten die Lizenz zum Fliegen in fortgeschrittenem Alter: Sie sollen künftig – entgegen einer EU-Verordnung – auch nach dem 60. Lebensjahr in die Luft aufsteigen dürfen. Von grösserer Tragweite war ein thematisch verwandtes Dossier: Die Jahrhundertreform der AHV.
Hier setzten sich die Bürgerlichen im Nationalrat durch: Frauen sollen künftig bis 65 arbeiten, zudem soll das Rentenalter bis auf 67 Jahre angehoben werden, falls die Sozialversicherung in Schieflage gerät. Die Ratslinke kämpfte erbittert gegen das «Rentenmassaker» – und hofft, dass der Ständerat das Rad der Zeit im Sinne der Arbeitnehmer zurückdreht.
Nach jahrelangem Ringen hat das Parlament zudem zwei Mammutvorlagen verabschiedet: Die Energiestrategie 2050 und den Strassenfonds. Ein doppelter Erfolg für Energie- und Verkehrsministerin Doris Leuthard – auch wenn aus dem prompten Atomausstieg nichts wurde und die einflussreiche Autolobby in ihrem Sinne «nachbesserte».
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt
Eigentlich hatte das Drehbuch des «Egerkinger Komitees» vorgesehen, dass der Schleier an an der Urne fällt. Dem könnte aber nun das Parlament zuvorkommen: Mit 88 zu 87 Stimmen (!) hiess der Nationalrat eine parlamentarische Initiative von Walter Wobmann (SVP/SO) gut.
Nun liegt der Ball beim Ständerat. Das «Egerkinger Komitee» will weiter Unterschriften für seine Volksinitiative sammeln, um allenfalls eine Zweitmeinung zur Burka einholen zu können.
An einer weniger umstrittenen Tradition rüttelten die Räte dagegen nicht: Heiratswillige müssen auch künftig Trauzeugen aufbieten. Der Ständerat lehnte die Motion «unbürokratisches Ja-Wort» ab, obwohl sich sogar der oberste Standesbeamte der Schweiz dafür aussprach. Immerhin: Motionär Andrea Caroni (FDP/AR) darf sich über einen prominenten «besten Mann» freuen (siehe Video).
Walliser Totentänze und Berner Konventionen
Schliesslich befassten sich die Parlamentarier mit «Naturgewalten» aller Art. Eine davon, SVP-Urgestein Ulrich Giezendanner, erschütterte bereits in der ersten Sessionswoche das Ratsgebälk. Der Ständerat erteilte der Forderung nach einer eidgenössischen Erdbebenversicherung trotzdem eine Absage. Giezendanners stimmgewaltiger Auftritt stand in gewissem Widerspruch zu seiner Aussage, er sei im Laufe seiner 25 Jahre im Nationalrat ruhiger geworden.
In einem anderen Dossier fielen die gewichtigsten Voten bereits in der Frühlingssession: «Ich bin ein Freund des Bibers, ich kenne diese Nager gut», so Roland Eberle (SVP). Ständeratskollegin Brigitte Häberli-Koller (CVP) sekundierte: «Sein Körperbau ist dem Leben im und ums Wasser hervorragend angepasst, der Biber ernährt sich rein vegetarisch.»
Doch die Schmeicheleien waren nur der Prolog. Tatsächlich geht es den Thurgauer Volksvertretern darum, den Nager vor Schlimmerem zu bewahren. So fordern sie, dass der Bund für Biberschäden an Infrastrukturen aufkommen soll. Der Nationalrat stimmte dem Begehren, im Gegensatz zur Schwesterkammer, zu.
Denn das Beispiel Schwan zeigt: Auch Sympathieträger können schnell auf der Abschussliste der Politik landen. Der putzigen Selbsthilfegruppe schliesst sich der Wolf an. Der Nationalrat hiess eine umstrittene Walliser Standesinitiative gut, die die Berner Artenschutz-Konvention kündigen will. Jetzt richtet der Ständerat über Meister Isegrim.