Im Oktober hat sich die Corona-Situation in der Schweiz massiv verschärft. Jede Woche wurde eine Verdoppelung der Neuinfektionen registriert. Auf diese Entwicklung hat der Bundesrat vergangene Woche mit einem Massnahmenpaket reagiert.
Der Zürcher Ökonom David Dorn ist Professor an der Universität Zürich und Mitglied der nationalen Covid-Taskforce des Bundes. Er äussert er sich zur finanziellen Unterstützung betroffener Branchen und zur Abhängigkeit der Wirtschaft vom Schweizer Gesundheitssystem.
SRF News: Hat die Schweiz die Lage noch im Griff?
David Dorn: Der Bundesrat hat ein Massnahmenpaket umgesetzt, das von der wissenschaftlichen Taskforce schon vor einiger Zeit so vorgeschlagen wurde. Ich glaube, die Massnahmen sind in der momentanen Situation sinnvoll, sie hätten vielleicht früher implementiert werden können. Einzelne Kantone haben ja bereits zusätzlich strengere Massnahmen ergriffen.
Die Massnahmen, die der Bund in der Schweiz getroffen hat, sind Minimum-Massnahmen.
Und trotzdem: In vielen Ländern Europas steht das Leben seit dem Wochenende beinahe still. In der Schweiz ist immer noch vieles möglich. Ist das nun vernünftig oder fahrlässig?
Die Massnahmen des Bundes sind Minimum-Massnahmen. Und die Tatsache, dass andere Länder, die geringere Fallzahlen aufweisen, stärkere Massnahmen ergriffen haben, zeigt die Richtung auf, in die es auch in der Schweiz noch gehen könnte – falls sich der Zuwachs der Fallzahlen in den nächsten Tagen nicht verlangsamt.
Sie haben zusammen mit ihren Wirtschafts-Kollegen an der Universität Zürich während des Shutdowns ein zwölfseitiges Positionspapier verfasst. Einer der ersten Sätze darin ist: «Der Shutdown ist richtig, um eine exponentielle Verbreitung des Virus zu verhindern.» Jetzt sind wir in der zweiten Welle mit noch höheren Fallzahlen. Folgerichtig müsste man doch nun sagen: zweite Welle, zweiter Shutdown.
Auf alle Fälle sollte man verhindern, dass es zu einer massiven Überbelastung des Gesundheitswesens kommt. Das könnte aber bereits diesen Monat passieren. Die Situation, in der Kranke in den Spitälern nicht mehr angemessen betreut werden können, ist nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein wirtschaftliches Desaster. Wenn die Leute sehen, dass das Virus ausser Kontrolle ist, entsteht eine grosse Verunsicherung bei Konsumenten und Investitionsentscheiden. Deswegen ist es wichtig, die Verbreitung des Virus zu bremsen. Im Frühling, als noch wenig über das Virus bekannt war, wurden dafür starke Lockdown-Massnahmen angewendet.
Und wäre das jetzt wieder der richtige Weg?
Man hat dazugelernt, man weiss gerade bei den Übertragungswegen mehr. Mit dem aktuellen Massnahmenpaket werden wichtige Schritte unternommen, um die sogenannten Mass-Spreader-Events zu limitieren – beispielsweise mit der Schliessung von Tanzclubs.
Die Frage, ob es einen weiteren Shutdown braucht, haben Sie nicht beantwortet. Die Welthandelsorganisation vertritt hier den Standpunkt: Lieber einmal kurz und intensiv schliessen als lang und perspektivlos.
Ich glaube, das ist ein Trugschluss. Wir haben im Frühling gesehen, dass wir mit einem stärkeren Lockdown relativ schnell die Ansteckungszahlen senken konnten. Aber dann hat man über den Sommer die gute Situation aus den Händen gegeben. Darum ist es falsch zu denken, dass wir die Situation innert zwei Wochen wieder ins Lot bringen können.
Zurück zum angesprochenen Positionspapier. Darin haben Sie nicht nur den Shutdown gefordert, sondern auch empfohlen, dass der Staat die Wirtschaft mit Geldern unterstützt. Muss er das heute auch noch tun?
Bei den Unternehmen ist es so, dass einzelne Branchen den ganzen Winter hindurch geschlossen werden, etwa Tanzclubs oder Veranstalter von grossen kulturellen Events. Dort stellt sich nun schon die Frage, ob nicht aus Gründen der Gerechtigkeit diejenigen Branchen, die zum Wohl der Gesellschaft auf ihre Tätigkeiten verzichten, entschädigt werden sollten.
Wenn man gewissen Branchen verbietet, aktiv zu sein, dann hat die Gesellschaft auch eine gewisse Verantwortung, sich entsprechend um diese Leute zu kümmern.
Auf der anderen Seite gibt es auch die Aussage von Finanzminister Ueli Maurer: «Wir haben nicht noch einmal 30 Milliarden Franken.» Da fragt man sich: Ist es Aufgabe des Staates, Firmen, die vielleicht schon vor Corona in Schwierigkeiten waren, mit Steuergeldern zu unterstützen?
Niemand hat gefordert, dass man alle Unternehmen am Leben hält. Klar ist aber: Wenn man Branchen verbietet, aktiv zu sein, dann hat die Gesellschaft auch eine Verantwortung, sich um diese Leute zu kümmern. Diese Branchen erbringen ein Opfer für die Gesellschaft. Und die Gesellschaft sollte bereit sein, dies auch abzugelten.
Das ganze Interview finden Sie als Audio in diesem Artikel.
Das Gespräch führte Hans-Peter Künzi.