Rita Müllhaupt kam schon als kleines Mädchen mit den Migros-Verkaufswagen in Berührung. Sie erinnert sich, wie die Mutter jeweils ihre Einkäufe bei einem Verkaufswagen in Oberschlatt bei Winterthur machte. Damals dachte Müllhaupt aber noch nicht, dass sie später selbst mit so einem Wagen auf Tour gehen würde.
Denn eigentlich wäre die junge Rita Müllhaupt lieber Kleinkinderzieherin geworden. Mit vier Geschwistern konnte sich die Familie die Ausbildung nicht leisten und die Alternative einer Ausbildung in einem Altersheim lockte die junge Frau wenig. «Meine Schwester war schon auf dem Verkaufswagen und darum habe ich gedacht: Gut, dann gehe ich halt auch auf diesen Verkaufswagen.»
Und so fuhr Müllhaupt am 15. April 1965 im Alter von 17 Jahren das erste Mal mit einem sogenannten Deckelwagen mit.
Wir hatten sehr nette Kundschaft, alle haben uns beim Vornamen genannt.
Das waren Lastwagen mit einer aufklappbaren Seitenwand, die Artikel des täglichen Bedarfs in abgelegene Dörfer brachten.
Migros-Wagen stossen auf Gegenwind
«Wenn wir ins Dorf einfuhren, kamen die Hausfrauen direkt angelaufen und einige warteten sogar schon auf uns», erinnert sich die Rentnerin heute. Wer bei ihr einkaufen kam, sei froh gewesen, dass sie kamen: «Wir hatten sehr nette Kundschaft, alle haben uns beim Vornamen genannt.»
Gefreut haben sich aber nicht alle über die Ankunft der Migros-Wagen.
Den allerersten Verkaufswagen der Migros in Einsiedeln hätten die Leute zum Beispiel mit Gülle beschmiert, erzählte ihr der Chauffeur.
Denn die neue Konkurrentin bedrohte mit ihren tiefen Preisen die lokalen Lebensmittelhändler.
Kunden brachten den Verkäuferinnen Kaffee
Am Anfang gefiel ihr der Job überhaupt nicht. «Da bleibe ich kein Jahr», dachte sich Müllhaupt.
Als es kalt war, kamen Kunden mit Tee oder Kaffee, um uns zu wärmen.
Im Winter habe sie im Verkaufswagen «bis an die Klüppli» gefroren. «Als es kalt war, kamen Kunden mit Tee oder Kaffee, um uns zu wärmen», erinnert sich Müllhaupt. Im Gegenzug brachte man ihnen auf Wunsch auch Produkte, die nicht im normalen Angebot waren und half auch mal, das Mineralwasser in den Keller zu tragen. «Teilweise kamen Kinder, die ein paar Jahre später plötzlich als Mütter vorbeikamen und bei mir einkauften.»
«Hygienisch war es nicht wirklich», sagt Müllhaupt und lacht. Der Käse und das Fleisch sei an der Wärme ausgestellt worden. Die Hände seien schwarz gewesen von den Aluminiumblechen am Wagen.
Aber es zog ihr den Ärmel rein. Vielleicht auch, weil der Chauffeur ihr mehr Verantwortung übertrug als üblich. Anders als ihre Kolleginnen durfte sie nicht nur die Produkte aus dem Deckelwagen zusammentragen, sondern auch gleich den Preis berechnen und einkassieren. Das machte den Job interessanter.
Mit dem Wechsel auf Selbstbedienungswagen 1969 war auch das Frieren Geschichte. Denn die neuen Wagen hatten eine Heizung eingebaut. Die Tage waren lang und streng, um 5 Uhr wurde der Wagen geladen, Feierabend war regelmässig erst nach 18 Uhr. Da blieb beispielsweise auch keine Zeit für ein Hobby wie den Turnverein, erzählt Rita Müllhaupt. Aber der Kontakt mit den Kundinnen und Kunden machte das wieder wett.
Entscheidend war neben dem angenehmen Kundenkontakt gemäss Rita Müllhaupt auch die gute Zusammenarbeit mit dem Chauffeur, mit dem man jeden Tag auf den Verkaufsrouten unterwegs war. Nicht alle Zweiergespanne hätten gleich gut funktioniert. In ihrem Fall hat es besonders gut harmoniert. Nach Jahren der kollegialen Zusammenarbeit entstand eine Freundschaft und später eine Liebesbeziehung. 1977 zogen Rita Müllhaupt und Otto Bürgler in eine gemeinsame Wohnung.
Es lief nicht immer alles rund
Ein Ereignis ist Rita Müllhaupt noch so präsent, als wäre es gestern passiert. «Wir hatten einen Unfall mit dem Migros-Wagen», erinnert sie sich.
Der Fahrer rauchte und dabei fiel ihm viel Asche auf die Hose. Als er diese hastig entfernen wollte, verlor er die Kontrolle über den Wagen, der daraufhin in einen Graben kippte. Glücklicherweise wurde niemand verletzt.
Mit einem Kran musste der Migros-Wagen wieder aus dem Graben gehoben werden, und die Fahrt war vorbei. Aber wer jetzt denkt, dass die Kundinnen an den Haltestellen vergebens warten mussten, liegt falsch.
Denn: «An jeder Haltestelle gab es eine Kundin mit einem Telefon. Diese wurden von der Zentrale aus darüber informiert, wenn ein Wagen verspätet, oder wie in diesem Fall, aufgrund eines Unfalls nicht kommen konnte.» Dies funktionierte reibungslos.
Da fliesst Blut aus dem Wagen
Auch eine andere Fahrt verlief nicht ganz reibungslos. An diese erinnert sich die heute 75-jährige Rita Müllhaupt jedoch mit einem Schmunzeln zurück. «Wir fuhren Richtung Rosenberg in Winterthur, als ein Autofahrer uns überholte. Er winkte wild und schien in Panik zu sein.»
Der Chauffeur hielt an und fragte, was los sei. Der Autofahrer erklärte, dass aus unserem Wagen Blut fliesse. Das sei unmöglich, entgegnete ihm unser Chauffeur. «Doch, da läuft tatsächlich Blut heraus», beharrte der Autofahrer.
«Unser Chauffeur wurde immer blasser und fürchtete bereits das Schlimmste – dass jemand im Wagen eingeklemmt sei.» Als er schliesslich im Wagen nachsah, entdeckte er, dass sich ein Gestell gelöst hatte, auf dem der Sirup gestanden war. Dieser lief natürlich aus.
Das Ende einer Ära im Schweizer Detailhandel
Mit der Zeit wurde der Betrieb der Verkaufswagen für die Migros immer teurer. Im Januar 1998 kam der Schlag ins Gesicht: Ende April sei Schluss mit den Migros-Verkaufswagen in ihrer Region (Winterthur-Schaffhausen), verkündete ihr damaliger Chef. «Das war tragisch für alle, vor allem für diejenigen, die mit Herzblut dabei waren», sagt Müllhaupt. Durch das inzwischen ausgebaute Netz an Läden wurde der Verkaufswagen überflüssig und bediente nur noch Randregionen.
Es ging etwas verloren. Diese Verkaufswagen gehörten einfach ins Dorf.
Sie selbst war zu dieser Zeit zwar nicht mehr auf dem Migros-Wagen unterwegs, sondern im Büro für die Verkaufswagen aktiv. Die Chauffeure erzählten, sie hätten massenhaft Geschenke von Kundinnen und Kunden bekommen und manche hätten sogar geweint.
«Es ging etwas verloren. Diese Verkaufswagen gehörten einfach ins Dorf.» Aber sie sei froh gewesen, dass alle ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen eine Anschlusslösung hatten. Auch in anderen Regionen verschwanden die Migros-Wagen. Am 30. November 2007 stellten die letzten beiden Wagen im Oberwallis ihren Betrieb ein. Eine Ära des Schweizer Detailhandels endete.
Ich bin ein Migroskind und bleibe ein Migroskind.
Rita Müllhaupt arbeitete nach ihrer Zeit bei den Verkaufswagen bis zur Pensionierung weiter in verschiedenen Jobs für die Migros. Ihre Sicht auf den Detailhändler habe sich durch das für sie traurige Ende nicht geändert, sagt die heute 75-jährige. «Ich bin ein Migroskind und bleibe ein Migroskind.»