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Interview mit Schiri-Experte Amhof: «Dieser Abseits-Entscheid war wirklich fast absurd»

SRF-Schiedsrichter-Experte Sascha Amhof spricht über die bisherigen (Fehl-)Entscheide an der WM 2022 in Katar, über lange Nachspielzeiten und die Verdienste des VAR.

Sascha Amhof
Legende: Ist beeindruckt von den Schiedsrichtern in Katar SRF-Experte Sascha Amhof. SRF

SRF Sport: Die Vorrunde und die Achtelfinals in Katar sind schon Geschichte. Wie beurteilen Sie die bisherigen Leistungen der Schiedsrichter?

Sascha Amhof: Alles in allem standen sie bislang nicht gross im Fokus – das ist genau das, was man will. Der Fussball soll im Mittelpunkt stehen und nicht Entscheide der Unparteiischen. Aber natürlich gibt es immer Verbesserungspotenzial. Es gab auch ein, zwei weniger gute Entscheide.

Zum Beispiel?

Da kommen mir konkret zwei Szenen in den Sinn. Zum einen der Penalty zwischen Portugal und Uruguay, den die Portugiesen zum 2:0 ausnutzten. Der Ball springt zwar im Strafraum an den Arm eines Südamerikaners. Doch das passiert, als er sich im Fallen mit diesem Arm abstützt. Nach den gängigen Weisungen wäre das kein Elfmeter, doch der VAR schaltete sich trotzdem ein. Das war verwirrend.

Zum anderen bleibt mir ein nicht gegebener Penalty für Kanada im Spiel gegen Belgien in Erinnerung. Der Schiedsrichter pfiff in dieser Szene wegen Abseits ab – was aber nicht korrekt war. Aufgrund der falschen Abseitsentscheidung gab es in der Folge auch keinen Penalty – was aber korrekt gewesen wäre. Der VAR meldete sich nicht – vielleicht, weil der VAR dies nicht als einen 100-prozentigen Elfmeter gewertet hat, da vor dem foulwürdigen Kontakt am Fuss der Ball noch minimal berührt wurde. Das sind zum Glück aber nur zwei Einzelentscheide in bislang 56 Spielen.

Welche Leistungen sind Ihnen speziell positiv aufgefallen?

Faszinierend finde ich eine Szene wie bei Uruguay – Ghana. Edinson Cavani suchte in der Nachspielzeit mit Absicht einen Penalty, indem er das Bein rausstellte. Der Referee nahm diese Nuance im ganzen Trubel korrekt wahr und signalisierte sofort: «Kein Elfmeter.» Die Eigenschaft, unter Hochdruck korrekt zu entscheiden, macht aus einem sehr guten einen exzellenten Schiedsrichter.

Im Startspiel zwischen Katar und Ecuador gab es einen sehr langen VAR-Unterbruch. Wie hat sich dieser Prozess aus Ihrer Warte im weiteren Turnierverlauf entwickelt?

Zum Glück hat es sich enorm verbessert. Da ging es zunächst schon mehrere Minuten, bis überhaupt der Abseits-Entscheid stand und insgesamt über zehn Minuten, bis wir am Bildschirm die Grafik und damit den Beweis sahen. Da wurde man als Zuschauer oder Zuschauerin zu lange im Dunkeln gelassen und die Szene war ohne diese Grafik nicht auflösbar. Inzwischen ist das aber deutlich besser geworden, wobei es für mein Gefühl noch schneller gehen könnte.

Offside-Entscheide werden neu auch mit speziellen Kameras und einem Chip im Ball technologisch unterstützt. Dies führte teilweise fast schon zu Millimeter-Entscheiden. Was sagen Sie dazu?

Tatsächlich stehe ich der totalen Technisierung und Digitalisierung von Abseitsentscheidungen eher kritisch gegenüber. Ein Beispiel für die diesbezüglichen Schwierigkeiten war der Entscheid zwischen Belgien und Kroatien, als es ultraknapp und wirklich fast absurd war. Meiner Ansicht nach würde sich der Ansatz «im Zweifel für den Angreifer» weiterhin lohnen. Ich habe aber schon mit vielen Schiedsrichtern, Journalistinnen oder auch Fans gesprochen, die das eine gute Sache finden.

Die grossen Schiedsrichter-Skandale blieben also bisher aus. Ist das auch ein Verdienst des VAR?

Definitiv. Die ganz grossen Skandalentscheide gibt es nicht mehr. Studien haben ausserdem gezeigt, dass die Anzahl der richtigen Entscheide seit der VAR-Einführung von 92 auf 98 bis 99 Prozent gestiegen ist. Das ist sehr gut. Es zeigt aber auch: 100 Prozent sind auch mit VAR kaum zu erreichen. Es ist immer noch ein Spiel mit Menschen.

Vor allem zu Beginn gab es unglaublich lange Nachspielzeiten. Wie stehen Sie dazu?

Ich persönlich tue mich im Moment noch schwer, mich damit anzufreunden. Im Vergleich zur WM 2018 ist die durchschnittliche Nachspielzeit von sechseinhalb auf zehn Minuten gestiegen. Ziel der Fifa war, damit die effektive Spielzeit zu erhöhen. Das ist zwar gelungen, aber ich frage mich, ob es dafür nicht bessere Mittel gäbe, die gleichzeitig die Spannung aufrechterhalten. Man könnte z.B. auch im Bereich der Sechs-Sekunden-Regel, wenn Goalies den Ball haben und rasch abstossen müssten, mal wieder ein wenig sensibilisieren.

Hoffentlich sehen wir möglichst bald wieder einen Schweizer Schiedsrichter an einer WM.
Autor: Sascha Amhof SRF-Schiedsrichter-Experte

Sind längere Nachspielzeiten auch in der Schweiz ein Thema?

Wir werden das in der Schiedsrichterkommission beim Schweizerischen Fussballverband sicher besprechen. Denn eine WM setzt immer Trends. Wir werden in unsere Analyse sämtliche relevanten Punkte aufnehmen, diese anschauen und allenfalls auch einführen. Ob und auf wann dies der Fall sein wird, lässt sich aktuell noch nicht sagen. Das hängt auch damit zusammen, ob das IFAB eine generelle Regeländerung beschliessen sollte.

Wann sehen wir wieder einen Schweizer Referee an einer WM-Endrunde?

Hoffentlich möglichst bald. Auf bestem Weg ist ja Sandro Schärer mit seinem Team. Schärer hat sich in der Champions League etabliert und war an der EM im letzten Jahr als Ersatz-Schiedsrichter bereits dabei. Der logische, nächste Schritt ist seine Teilnahme an einem grossen Turnier. Ob das schon in zwei oder in vier Jahren ist, wird sich zeigen. Ein weiteres Schweizer Aushängeschild ist Esther Staubli: Sie pfiff schon zwei Women's-Champions-League-Finals und auch schon an der WM und EM. Die Frauen sind den Männern da im Moment noch einen Schritt voraus.

Das Gespräch führte Laura Inderbitzin.

SRF zwei, sportlive, 6.12.2022, 19:15 Uhr

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