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Grundwerte nicht verhandelbar Ungarn provoziert die Idee der Werteunion

Es kommt äusserst selten vor, dass es bei einer Aussprache an einem Europäischen Gipfel persönlich wird. Die Staats- und Regierungschefs und Chefinnen kennen die diplomatischen Gepflogenheiten nur zu gut. Bei der Aussprache zum heftig umstrittenen Gesetz in Ungarn, das LGBTQI-Menschen diskriminiert, wurde die diplomatische Ebene verlassen.

Ausser von Polen und Slowenien wurde Viktor Orban von den anderen Mitgliedstaaten teilweise heftigst kritisiert. Es war eine Aussprache, die schon längst fällig war. Das Gesetz in Ungarn war der bekannte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Orban lässt sich nicht beeindrucken

Der ungarische Premierminister Orban provoziert mit seinem Regierungsmodell einer illiberalen Demokratie seit Jahren einen Grossteil der europäischen Mitgliedsstaaten. Minderheiten werden in Ungarn zu wenig gut geschützt, die Unabhängigkeit der Medien ist nicht gewährleistet und auch bei der europäischen Migrationspolitik stellt sich Orban quer.

Gegen Ungarn laufen 102 Vertragsverletzungsverfahren. Auch ein Artikel-7-Verfahren, das bei mutmasslichen Verletzungen gegen die Grundwerte der EU zum Zuge kommt, wurde schon seit längerer Zeit in die Wege geleitet. Viel Wirkung zeigen diese juristischen Werkzeuge bis anhin nicht. Ob die politischen öffentlichen Aussagen der Staats- und Regierungsoberhäupter im Rahmen des EU-Gipfels mehr Druck auf Orban ausüben können, ist fraglich.

Gleichbehandlung ist ein grundlegender Wert

Es gibt unterschiedliche Interpretationen davon, inwiefern die Europäische Union längst mehr ist als ein politisches Gebilde, das in erster Linie auf dem gemeinsamen Binnenmarkt und dessen Regeln aufbaut. Hört man EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der deutschen Kanzlerin oder dem französischen Präsidenten zu, ist die EU längst auch eine Werteunion.

Das ist dann richtig, wenn es um die grundlegenden Werte der EU geht, die in Artikel 2 der Europäischen Verträge festgeschrieben sind. Zu diesen Werten gehört auch, dass Minderheiten nicht diskriminiert werden dürfen. Es sind grundlegende Werte, die nicht verhandelbar sind und denen die Staaten zustimmen, wenn sie der Europäischen Union beitreten.

Es braucht eine ehrliche Debatte zur Werteunion

Zur Realität gehört aber auch, dass diese Werte in den einzelnen Mitgliedsländern unterschiedlich interpretiert und berücksichtigt werden. Gerade Staaten wie Ungarn, Polen oder auch Slowenien sprechen oft nicht von denselben Werten, wie das beispielsweise die Kommissionspräsidentin macht.

Juristisch kann man zwar gegen Verstösse der Grundwerte vorgehen, gesellschaftliche Veränderungen werden dadurch aber nicht erzielt. Was es braucht, ist ein offener und ehrlicher Dialog darüber, wie diese Werte innerhalb der EU gelebt und umgesetzt werden können. Gerade dieser EU-Gipfel und die klare Position der meisten Mitgliedsstaaten gegen Orban und gegen dessen Verständnis von gesellschaftlichen Werten zeigt deutlich, wie dringend eine solche Debatte ist.

Michael Rauchenstein

SRF-Korrespondent TV in Brüssel

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Während seines Studiums der Politikwissenschaft an der FU Berlin arbeitete Michael Rauchenstein zweieinhalb Jahre als freier Redaktor für SRF in Berlin. Nach einem Jahr in der Auslandredaktion (und bei der Arena) in Zürich ist er seit März 2020 TV-Korrespondent in Brüssel.

Tagesschau; 25.06.2021; 19:30 Uhr

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