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Proteste in Georgien «Wir machen die Arbeit, die der Staat tun sollte»

Von der Investigativjournalistin bis zum Behindertenheim: Betroffene des georgischen «Agentengesetzes» erzählen.

Tamuna Subalaschwili ist 24, liebt Musik und ist Gesangssolistin im Chor der Qedeli Community, wo sie lebt. «Qedeli ist meine Familie, hier fühle ich mich sicher», sagt sie.

Qedeli Community ist ein Wohn- und Integrationsprojekt für Menschen mit geistiger Behinderung im Osten Georgiens. Auf einer bewaldeten Anhöhe stehen drei Häuser, von der Terrasse blickt man auf die Weingüter im Tal und dahinter auf die Berge des Kaukasus. Die Bewohnerinnen und Bewohner beschäftigen sich nicht nur mit Singen und Tanzen, sondern bebauen auch den Acker und arbeiten in der Werkstatt.

Organisationen unter Druck

Auch Tamuna Subalaschwili lebt mit einer Behinderung und benutzt einen Rollstuhl. Bevor sie nach Qedeli kam, lebte sie in einem grossen staatlichen Heim. Sie wurde schlecht behandelt, teilweise geschlagen, erzählt sie. Und sie hatte keinen Rollstuhl. Die Leute im Heim nannten sie nicht beim Namen, sondern «die Kriechende».

Solche Einrichtungen, ein Erbe der Sowjetzeit, seien in Georgien nun geschlossen, erklärt Lali Chandolaschwili, die ehemalige Musiklehrerin, die Qedeli 1999 gegründet hat.

«Nichtregierungs­organisationen, wie unsere, haben viel getan, damit der Staat auf kleinere, modernere Einrichtungen setzt», sagt sie. Doch die staatliche Hilfe für Menschen mit Behinderungen sei bis heute mangelhaft. Darum brauche es Orte wie Qedeli.

«Wir machen die Arbeit, die eigentlich der Staat machen sollte», sagt Chandolaschwili. «Dafür geben sie uns 12 Euro pro Bewohner und Tag. Das ist viel zu wenig, also sind wir auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Und jetzt nennen sie uns darum ‹ausländische Agenten›».

«Sie wollen uns einschüchtern»

In der Hauptstadt Tiflis gehen die Proteste weiter, sie sind durch das Bürofenster von Nino Suriaschwili zu hören. Sie weiss, was es heisst, in Georgien als Verräterin gebrandmarkt zu werden. Seit bald 30 Jahren ist sie eine der führenden Investigativ­journalistinnen Georgiens.

«Schon vor Jahren habe ich Morddrohungen erhalten», sagt sie. «Traurig, aber wahr: Jede georgische Regierung hasst mich.»

Darum geht es beim Agentengesetz in Georgien

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In vielen Ländern gibt es Gesetze, die Nichtregierungsorganisationen regulieren. Die georgische Regierung betont, sie tue nur, was auch Frankreich oder die USA täten. Doch die jüngst verabschiedete Vorlage geht weiter als entsprechende Gesetze im Westen: Sie sieht kaum Ausnahmen vor; sämtliche Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland beziehen, müssten sich als «Vertreter einer fremden Macht» registrieren lassen. In Georgien, wo der Durchschnittslohn 600 Franken beträgt und staatliche Ausgaben begrenzt sind, sind das fast alle NGOs. Auch Qedeli ist betroffen, das vor allem private Spender in Deutschland und Belgien hat.

Betroffene und Kritiker sehen im Gesetz einen Versuch, Georgiens Zivilgesellschaft zu ersticken. Oft vergleichen sie es mit einem Gesetz in Russland, das sich gegen «ausländische Agenten» richtet und das benutzt wurde, um die russische Zivilgesellschaft mundtot zu machen. Auch dieser Vergleich ist nicht ganz richtig. In gewisser Hinsicht geht das georgische Gesetz weiter als das russische, weil selbst das russische Ausnahmen vorsieht, wobei diese sehr schwammig ausgelegt sind. Gleichzeitig dürfen die russischen Behörden Organisationen, die als «Agenten» gelten, schliessen – die georgischen dürfen dies nicht.

Trotzdem sind die Ängste in der georgischen Zivilgesellschaft berechtigt. Organisationen müssen akzeptieren, als «Vertreter einer fremden Macht» delegitimiert zu werden, oder mit hohen Bussen rechnen, die die wenigsten Organisationen stemmen können. Die georgische Regierung hat es trotz monatelanger und heftiger Kritik abgelehnt, das Gesetz vor der Abstimmung anzupassen. Und die Regierung bezeichnet Nichtregierungsorganisationen inzwischen offen als Verräter.

Suriaschwili ist die Chefredakteurin des Investigativmediums Monitori. Auch dieses ist vorwiegend aus dem Ausland finanziert, etwa durch die Stiftungen von George Soros und die US-Botschaft. Monitori müsste sich als «Vertreter einer fremden Macht» registrieren.

Die Geldgeber nähmen keinen Einfluss auf ihre Berichterstattung, sagt Suriaschwili. Sie erinnert daran, dass sie auch brisante Recherchen zur Regierung des ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili veröffentlicht hat, ein Gegner der aktuellen Regierung, der den USA sehr nahestand. «Saakaschwili hat meinen damaligen Arbeitgeber sogar geschlossen. Aber jetzt sagen die Politiker, ich sei dessen Agentin, obwohl sie wissen, dass das nicht stimmt.

Doch darauf beschränkt es sich nicht: Suriaschwili holt aus einer Ecke ihres Büros ein zerknittertes Plakat hervor. Darauf stehen ihr Gesicht, ihr Name und in georgischer Sprache der Satz «Kein Platz für Agenten in Georgien».

Eine Frau im Büro zeigt ein Plakat. Darauf ist ein Foto von ihr zu sehen.
Legende: Nino Suriaschwili, Investigativjournalistin beim Medium «Monitori», zeigt in ihrem Büro das zerknitterte Plakat mit ihrem Foto und der Aufschrift «Kein Platz für Agenten in Georgien». srf/ Calum MacKenzie

«Diese Plakate hingen vor meinem Haus und vor unserem Büro. Und mein Auto wurde beschädigt», sagt sie. Nino Suriaschwili war nicht die einzige, auch andere prominente Kritikerinnen und Kritiker der Regierung wurden in den letzten Tagen bedroht oder gar zusammengeschlagen, es war eine offensichtlich koordinierte Kampagne. «Sie wollen uns einschüchtern», sagt sie.

Für Nino Suriaschwili ist auch das ein Zeichen, dass die Regierung mit dem Gesetz nichts Gutes vorhat.

Rendez-vous, 16.5.24, 12:30 Uhr

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