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Türkei taktiert mit Migranten «Kaum jemand schafft es nach Griechenland»

Die Türkei hält Flüchtlinge und Migranten, die nach Griechenland und Europa weiterziehen wollen, nicht mehr zurück. Tausende von ihnen versuchen nun, über die Grenze zu gelangen, was griechische Einsatzkräfte bislang grösstenteils verhindern.

Die Türkei versuche so, den Druck auf die EU zu erhöhen, sagt der Journalist Thomas Seibert. Doch er vermisst eine Strategie hinter dem Vorgehen.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Der türkische Innenminister schrieb am Sonntag auf Twitter, über 100'000 Migranten hätten die Grenze zur EU passiert. Kann das stimmen?

Thomas Seibert: Nein. UNO-Mitarbeiter vor Ort sprachen von 13'000 Menschen im Grenzgebiet. Möglicherweise meint der türkische Innenminister mit dieser Zahl jene Menschen, die aus der Türkei nach Europa wollen.

Sie waren gestern an der türkisch-griechischen Grenze – Wie sieht die Situation dort aus?

Wir waren an einem Grenzübergang bei der türkischen Stadt Edirne. Dort sind viele Flüchtlingsgruppen unterwegs, die versuchen, über die Grenze nach Griechenland zu gelangen. Die türkischen Grenzbeamten lassen sie gewähren.

Kaum jemand schafft es nach Griechenland.

Allerdings schafft es kaum jemand nach Griechenland. Wem es gelingt, wird von den griechischen Sicherheitskräften festgenommen. Trotzdem harren die Menschen, darunter viele Afghanen, an der Grenze aus.

Das klingt, wie wenn auf dem Buckel dieser Menschen Politik gemacht würde: Wieso hat Erdogan gerade jetzt den Migrationspakt ausgesetzt?

Es war wohl eine spontane Entscheidung der Regierung. Sie wurde in der Nacht auf Freitag, wenige Stunden nach dem Tod von mehr als 30 türkischen Soldaten in der syrischen Provinz Idlib, bekannt gegeben.

Ankara versucht, Druck auf EU und Nato aufzubauen.

Die Türkei will Europäer und die Nato dazu zwingen, ihr in Idlib im Kampf gegen die syrische Armee zu helfen. So verlangt sie Luftabwehr-Systeme sowie Hilfe bei der Errichtung einer Schutzzone auf syrischem Gebiet. Mit der Grenzöffnung für die Flüchtlinge auf türkischer Seite versucht Ankara jetzt also, Druck auf EU und Nato aufzubauen.

Welche Konsequenzen hat diese Kurzschlusshandlung der türkischen Regierung?

Viele Flüchtlinge sitzen nun erst einmal an der Grenze zu Griechenland fest, den allermeisten dürfte es nicht gelingen, nach Europa zu gelangen. Für die türkisch-europäischen Beziehungen bedeutet der Entscheid eine neue Verschlechterung Beziehungen.

Die türkische Regierung versucht von ihrer Konzeptlosigkeit abzulenken, indem sie immer wieder neue ‹Baustellen› eröffnet.

Die Türkei hat sich vertragsbrüchig gezeigt, auch wenn Ankara das offiziell abstreitet. Die Regierung sagt, man bleibe dem Abkommen treu, man habe es bloss ausgesetzt. In Tat und Wahrheit versucht die türkische Regierung aber, von ihrer Konzeptlosigkeit abzulenken, indem sie immer wieder neue «Baustellen» eröffnet. Ein durchdachtes Handeln ist eigentlich nicht erkennbar.

Sind EU und die Türkei in der jetzigen Situation überhaupt noch an einem Flüchtlingsabkommen interessiert?

Die Türkei hält sich auf jeden Fall eine Hintertür offen. Ankara betont immer wieder, man stehe im Grunde zum Abkommen. Allerdings ist es für die europäischen Politiker innenpolitisch sehr schwierig, der Türkei unter diesem Druck entgegenzukommen. Die Situation ist nicht nur für die Flüchtlinge schwierig, sondern auch für die internationale Politik, die jetzt einen Ausweg aus der Krise suchen muss.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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