Über Dutzende Kilometer stehen Holzpfosten entlang der holperigen Landstrasse im ukrainisch kontrollierten Donbass. Daran befestigt: Anti-Drohnennetze. Russische Drohnen sollen sich darin verfangen, wenn sie fahrende Autos angreifen.
Es ist die letzte halbwegs sichere Strasse in die Agglomeration Kramatorsk. Eine halbe Million Menschen hat dort einst gelebt.
Inzwischen allerdings fahren mehr Leute aus dem Donbass raus als rein. Hunderte verlassen jeden Tag die Region, sie fliehen vor den Angriffen der russischen Armee.
Ich hab alles verloren, mein zu Hause, meine Hoffnungen.
Die 76-jährige Oxana sitzt wie ein Häuflein Elend auf einem Feldbett in einem Schulhaus. Das Gebäude liegt etwas entfernt von der Front und dient inzwischen als Erstaufnahmezentrum für Vertriebene.
«Es wurde ohne Unterbruch geschossen – Tag und Nacht. Ich verstehe nicht, wie Menschen sowas tun können, wie so eine Barbarei möglich ist», sagt die Rentnerin.
Die ehemalige Fabrikarbeiterin hat bis zuletzt in der Industriestadt Kostjantyniwka ausgeharrt. Die russische Armee macht dort mit Drohnen regelrecht Jagd – auf Autos, auf Fussgänger. Dazu kommen Fliegerbomben, Artilleriefeuer, Raketen.
Doch obwohl Oxana jetzt halbwegs in Sicherheit ist, freuen kann sie sich nicht: «Ich weiss nicht, wo ich hin soll, ich weiss überhaupt nichts. Ich hab alles verloren, mein Zuhause, meine Hoffnungen.»
Im Eingangsbereich des Schulhauses stehen derweil immer noch Dutzende Flüchtlinge Schlange. Hier werden sie registriert, in einer Kantine bekommen sie eine Suppe – und wer braucht, kann sich auf einem Wühltisch warme Kleidung aussuchen. Viele mussten derart überhastet abreisen, dass sie nur eine kleine Tasche mitnehmen konnten.
Wir haben es mit einer richtigen Flüchtlingswelle zu tun.
Mitten in dem Gewusel steht Olena Labsewa. Sie koordiniert für die ukrainische Nichtregierungsorganisation Proliska die Hilfe vor Ort.
Die Kämpfe an der Ostfront seien in den letzten Wochen eskaliert, sagt Labsewa. «Wir haben es mit einer richtigen Flüchtlingswelle zu tun.»
Am Anfang seien 80 bis 100 Leute pro Tag angekommen. «Gestern waren es 200», so Labsewa. «Und wenn ich mir ansehe, was im Moment los ist, werden es heute noch mehr sein.»
Ortswechsel nach Kramatorsk: Hier ist die Front nah, Tag und Nacht sind Artillerieduelle zu hören – ein dumpfes Dröhnen von Norden, Süden und Osten her. Die Russen stehen 15 Kilometer von der Stadtgrenze entfernt und versuchen, die Agglomeration grossräumig einzukesseln. Die Ukrainer wehren sich erbittert.
Kramatorsk ist für die Verteidiger eine Festung: Massive Verteidigungsbauten schützen das Stadtgebiet. In der Stadt selbst sind zehntausende Soldaten stationiert. Sie dominieren das Strassenbild, an Kebabständen, in den kleinen Lebensmittelgeschäften, auf dem Markt: Überall sind Männer in Kampfuniform unterwegs.
Überall war Blut – und die Hausapotheke war in der Küche, da konnte ich nicht hin.
Eine Zivilistin, die noch ausharrt, ist Ekaterina Seledzova. Die junge Mutter räumt gerade ihre Wohnung auf. Vor wenigen Tagen sind zwei russische Fliegerbomben auf dem Trottoir vor dem Haus niedergegangen. Ekaterina hat nur mit Glück überlebt.
«Mein Sohn sass an dem Abend in der Badewanne. Er hat mich aus irgendeinem Grund gerufen. Als ich zu ihm ging, kam die erste Bombe – sechs Sekunden später die zweite.» Der Bub wurde bei der Attacke verletzt. Herunterfallende Badezimmerplatten haben ihm eine Vene am Finger durchtrennt. «Überall war Blut – und die Hausapotheke war in der Küche, da konnte ich nicht hin. Also hab ich ihm mit einer Unterhose den Finger verbunden.»
Ekaterina selbst hat durch die Explosion eine Hirnprellung erlitten und leidet unter schweren Symptomen. Ihr ist übel, sie hat Erinnerungslücken, manchmal muss sie nach Worten suchen, stottert. Freunde haben der jungen Frau geholfen, die Wohnung in Rekordtempo wieder notdürftig herzurichten. Wobei unklar ist, ob das Haus überhaupt noch bewohnbar sein wird. Im obersten Stock brannte eine Wohnung komplett aus, das Dach ist beschädigt.
Ekaterina macht sich nicht nur um ihre Wohnung Sorgen, sondern auch um Kramatorsk. Deswegen hat sie bereits einen Fluchtplan entwickelt: «Ich hab ein Haus gemietet im Gebiet Kharkiv, weiter westlich von hier. Da habe ich schon einen Teil meiner Sachen hingebracht. Aber die Miete ist sehr teuer – dieses Geld muss ich erstmal verdienen.»
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Bild 1 von 4. Die Sicherheitslage in Kramatorsk hat sich in den letzten Wochen deutlich verschlechtert. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 4. Die russische Armee ist nur noch 15 Kilometer entfernt. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 4. Die Stadt wird regelmässig beschossen. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 4. Ein Zufluchtsort in Zeiten von Krieg: Ekaterinas rosa Café. Bildquelle: SRF.
Deswegen: Wenn es irgendwie geht, fährt Ekaterina trotz ihrer Hirnverletzung zur Arbeit. Sie ist Konditorin und führt ein kleines, aber beliebtes Café in Kramatorsk.
Hier gibt es Torten, Törtchen und Kaffee. Das alles getaucht in rosarot: Wände, Sessel, ja selbst der Trainingsanzug, den die Hausherrin trägt, ist rosa.
Das Café ist Ekaterinas Lebenswerk: «Das hier ist nicht einfach eine Arbeit. Es ist ein Ort, wo ich die Realität hinter mir lassen kann, es ist ein Ort, an dem alles gut ist.» Ekaterina sagt, sie wolle vielleicht bald ihren Sohn zusammen mit ihrer Mutter in das gemietete Haus bringen: in Sicherheit. Sie aber bleibe bis zuletzt in Kramatorsk.
Denn macht sie das Café zu, geht ihr bald das Geld aus. «Ich habe keine Hoffnung, dass ich das Café einpacken und woanders wieder eröffnen kann. Eine solch wunderbares Leben wird es nicht geben.»
Ich bin nicht bereit, unter den Russen zu leben.
In einem Park in Kramatorsk hört man lautes Hundegebell zwischen den Bäumen hindurch. Hier betreibt Elena Michailenko ihr kleines Hundeasyl. Meist sind es Soldaten, die ihr Tiere bringen – Tiere, deren Besitzer vor dem Krieg geflohen sind.
Michailenko versucht dann, für die Hunde neue Familien zu finden – irgendwo im Westen des Landes. «Es sind in letzter Zeit deutlich mehr herrenlose Tiere geworden. Das hat damit zu tun, dass mehr Leute fliehen», sagt die Tierliebhaberin.
Für sie selbst allerdings kommt eine Flucht nicht in Frage – noch nicht. Fürs Erste bleibe sie hier, sagt sie. «Ich lasse die Tiere nicht im Stich. So lange wie möglich werde ich versuchen, Hunde zu retten.»
Knapp ein Dutzend Tiere leben derzeit in dem Hundeasyl. Ein Tier mit einer besonders glücklichen Geschichte ist Mary. Eineinhalb Jahre hat sich die Hündin in den Kriegswirren alleine durchgeschlagen, nachdem das Haus ihrer Familie zerbombt wurde. Elena Michailenko hat das Tier schliesslich gefunden – und dank eines implantierten Chips auch Marys Besitzerin. Hund und Frauchen sollen demnächst wieder vereint werden.
Allerdings weiss Michailenko: Vielleicht muss auch sie ihr Hundeasyl, ihre Stadt irgendwann verlassen. «Ich bin nicht bereit, unter den Russen zu leben. Aber aus Kramatorsk wegzugehen – das wäre sehr hart», sagt sie mit Tränen in den Augen. Wahrscheinlich halte sie den Krieg, diese Ungewissheit nur dank der Tiere aus: «Wenn ich die Hunde nicht hätte, würde ich wohl verrückt werden.» Elena sagt es – und geht dann zu einem kleinen Tisch, um für ihre Tiere Futter bereitzumachen.