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Russischer Politiker in Genf Russland: «Der Westen ist schuld an dem, was heute passiert»

Interviews führender russischer Politiker mit westlichen Medien sind rar geworden. Doch nun äussert sich gegenüber SRF Konstantin Kosachev, Vizepräsident des Föderationsrats, der zweiten russischen Parlamentskammer. Er ist dort Vorsitzender der aussenpolitischen Kommission. Was er sagt, gibt Einblick in die Sicht- und Denkweise im Kreml – und zeigt, wie schwierig jegliche Wiederannäherung Russlands zum Westen ist.

Konstantin Kosachev

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Der 62-jährige Konstanin Kosachev war früher Diplomat, bevor er in die Politik einstieg. Er beriet mehrere Ministerpräsidenten und wurde in die Staatsduma gewählt, später in die zweite Kammer des russischen Parlaments, den Föderationsrat. Dort ist er heute Vizepräsident und sitzt dem aussenpolitischen Ausschuss vor. Kosachev ist einer der erfahrensten und wortgewandtesten russischen Aussenpolitiker. Er vertrat sein Land auf grossen internationalen Konferenzen und befindet sich inhaltlich ganz auf der Linie der Kremlführung. Allerdings vertritt er deren Position weniger aggressiv als andere führende russische Politiker.

SRF News: Russland war diese Woche in Genf auf dem Weltkongress der IPU, der Interparlamentarischen Union, prominent vertreten. Was ist ihr Interesse an dem Treffen?

Konstanin Kosachev: Russland ist immer offen für den Dialog. Wir sind sehr enttäuscht darüber, dass westliche Länder in den letzten Jahren viele Formate für den Austausch zerstört haben. Dort, wo die europäischen Länder die Mehrheit haben, haben sie den Dialog abgetötet. Bei der IPU konnten sie das nicht tun, denn da sind sie nicht dominant. Deshalb sind wir hier. Wir sind auch den Schweizer Behörden dankbar, dass die unsere Präsenz ermöglicht haben.

Sie sagen, Russland wolle den Dialog, doch der Westen verweigere ihn?

Die westlichen Länder haben den Verhandlungsprozess untergraben, der im März 2022 zwischen Russland und der Ukraine begann, einige Wochen nach Beginn der militärischen Spezialoperation. Mit dieser wollten wir die Ukraine in erster Linie zwingen, Probleme mit der russischsprachigen Bevölkerung, Sicherheitsfragen und all diese Dinge direkt mit uns zu besprechen. Doch die Nato-Länder lehnten jede Verhandlungsoption ab. Jetzt sprechen wir wieder mit der Ukraine. Aber die reagiert nicht auf unsere Anliegen. Wohl, weil sie auf Anweisungen aus europäischen Hauptstädten und aus Washington wartet.

Reden mit Russland

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Von manchen Kreml-nahen Politikern wie Ex-Präsident Dmitri Medwedew gibt es für den Westen nur Beschimpfungen, Drohungen und Spott. Konstantin Kosachev vertritt Wladimir Putins Sichtweise ebenso ohne einen Hauch von Kritik, jedoch nüchtern und verständlich. Manches irritiert, empört. Doch der Westen kann Russland und dessen Politik nicht ignorieren. Zu gross ist Moskaus Einfluss, zu zahlreich seine Freunde, darunter so mächtige wie China. Das heisst: Man muss die russischen Positionen und Denkweise kennen, um sich mit dem Land kritisch auseinandersetzen und sich seiner Aggression widersetzen zu können.

Waren also die bisher drei direkten Gesprächsrunden in Istanbul zwischen der Ukraine und Russland nutzlos?

Sie waren nützlich, was humanitäre Aspekte des Konflikts betrifft. Aber unsere Positionen in zentralen Fragen des Konflikts liegen weit auseinander. Wir haben zwei Positionspapiere vorgelegt. Irgendwo müssen wir anfangen.

Wenn die Ukraine auf ihren Positionen beharrt, geht der Konflikt noch lange weiter und die Lage bleibt explosiv.

Wie sehen sie das neue Ultimatum von US-Präsident Donald Trump? Nehmen Sie es ernst?

Ehrlich gesagt, bin ich sehr überrascht. Solche Ultimaten sind nie sinnvoll. Ernsthafte Konflikte lassen sich nicht auf einen bestimmten Termin lösen. Wir wundern uns auch, dass sich das Ultimatum nur an Russland richtet. Die Ukraine braucht nichts zu tun. Doch wenn die Ukraine auf ihren Positionen beharrt, geht der Konflikt noch lange weiter und die Lage bleibt explosiv. Trumps Forderungen sollten sich daher vor allem an die Ukraine richten.

Zahlreiche Tote durch russische Angriffe

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Zerstörte Gebäude mit Rauch und Trümmern.
Legende: Reuters/Inna Varenytsia

Während in Genf die Versammlung der Interparlamentarischen Union (IPU) der UNO mit der umstrittenen Beteiligung einer russischen Delegation stattfand, führte die russische Armee weitere heftige Luftangriffe auf ukrainische Ziele aus. Dabei wurden zahlreiche zivile Ziele getroffen, mehrere Menschen wurden getötet und dutzende verletzt.

Allein aus Kiew wurden am Donnerstag über 30 Tote gemeldet, darunter ein sechsjähriger Junge und seine Mutter. Über 100 Menschen wurden offenbar verletzt, darunter auch Minderjährige. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski griffen die Russen neben der Hauptstadt und der Region um Kiew auch die Regionen Dnipropetrowsk, Poltawa, Sumy und Mykolajiw an.

In Kramatorsk wurde ein fünfstöckiges Haus getroffen, es stürzte ein. Mindestens ein Zivilist wurde getötet, elf weitere wurden verletzt. Insgesamt habe Moskau am Donnerstag mehr als 300 Drohnen und acht Raketen auf die Ukraine abgefeuert, so Selenski. «Heute hat die Welt wieder einmal Russlands Antwort auf unseren mit Amerika und Europa geteilten Wunsch nach Frieden gesehen», schrieb Selenski. (Agenturen)

Präsident Trump behauptete anfänglich, er könne binnen Stunden einen Frieden schaffen. Was halten sie von seinen Bemühungen?

Ich weiss nicht, wie sich Herr Trump das vorstellte. Das Problem der westlichen Länder, die USA eingeschlossen, ist, dass sie den Konflikt gar nicht verstehen. Sie verstehen nicht, dass alle früheren Sowjetrepubliken multiethnische Staaten sind, auch Russland selber. In manchen von ihnen kamen dann Nationalisten an die Macht, die so tun, als lebten in ihrem Land nur Georgier, nur Esten oder nur Ukrainer. Sie müssen das ändern.

Können sie sich eine Zukunft vorstellen, in der Russland friedlich zusammenlebt mit einer freien, souveränen Ukraine?

Ja. Als die Sowjetunion zusammenbrach, gelang es uns, einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Als die Ukraine unabhängig wurde, bekannte sie sich zu drei Prinzipien: Neutralität, Verzicht auf Atomwaffen und Demokratie. Deshalb hat Russland damals die Unabhängigkeit der Ukraine unterstützt. Kehrt sie zu diesen Prinzipien zurück, ist das Problem gelöst. Hingegen fühlen wir uns nicht sicher, wenn die Nato an unsere Grenze heranrückt. Das akzeptieren wir niemals. Umso weniger, als die Ukraine territoriale Ansprüche gegenüber Russland hat…

...welches russische Territorium beansprucht denn die Ukraine?

Die Krim, Sevastopol, die vier neuen Regionen Russlands im ehemaligen Südosten der Ukraine. Sie alle haben sich in Referenden entschieden, aus der Ukraine auszutreten und sich Russland anzuschliessen.

Völkerrechtlich gehört die Krim aber ganz klar zur Ukraine…

Das zeigt die westliche Doppelmoral. Im Fall Kosovos haben die westlichen Länder die Unabhängigkeit von Serbien und das Recht auf Selbstbestimmung anerkannt. Im Fall der Krim tun sie das nicht.

«China und Russland wollen Stabilität»

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Zum russischen Verhältnis mit China sagt Kovalchev: «Wir haben ausgezeichnete Beziehungen zu China und sie beruhen hundertprozentig auf Gleichberechtigung. China mischt sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten ein, wir uns nicht in ihre. Uns eint die Überzeugung, dass eine unipolare, vom Westen dominierte Welt neue Probleme für die Menschheit schafft, statt sie zu lösen. Die Nato und die EU sind heute Organisationen, die sich überall auf der Welt einmischen, auch dort, wo es sie nichts angeht, wo sie nichts zu suchen haben. Sie sind aggressiv. Wir sind nicht speziell antiwestlich. Aber wir wollen wieder Stabilität herstellen in der Welt. Der Westen hat kein Recht, die Welt zu dominieren. Das ist das gemeinsame Verständnis von Russland, China und vielen anderen Ländern.»

Derzeit ist das Verhältnis zwischen Europa und Russland zerrüttet. Was müsste Europa und was müsste Russland tun, um zu mehr Kooperation zurückzukehren?

Europa muss selbstkritischer sein. Die westlichen Länder haben mehrere grosse Fehler begangen: Sie haben den Staatsstreich 2014 auf dem Kiewer Maidan als demokratische Revolution interpretiert. Dabei war es ein antidemokratischer Putsch. Sie haben die Rückkehr der Krim zu Russland als Besetzung interpretiert.

Der Westen ist zu hundert Prozent schuld, an dem, was heute passiert.

Sie haben Ende 2021 Russlands Vorschläge für eine Zukunft der Ukraine ausserhalb der Nato und der EU abgelehnt. Und sie haben die russisch-ukrainischen Gespräche im März 2022 untergraben. Es gibt einen Weg, die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland zu normalisieren. Aber dafür muss sich der Westen bewegen. Er ist zu hundert Prozent schuld, an dem, was heute passiert.

Muss sich nicht auch Russland bewegen?

Ich glaube nicht, dass wir irgendwelche Fehler begangen haben. Wir haben stets nur eingegriffen, weil wir dazu aufgerufen wurden. Wir mussten in Georgien die Menschen in Südossetien und Abchasien schützen. Wir mussten die Menschen auf der Krim schützen, die verlangten: Bitte holt uns aus der Ukraine raus. Ich glaube daher nicht, dass Russland etwas an seinem Verhalten ändern muss.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

Echo der Zeit, 31.7.2025, 18:00 Uhr ; 

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