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Bilanz zum UNO-Gipfel Die «Weltgemeinschaft» verdient ihren Titel zurzeit nicht

Ruhig ist die Grosswetterlage seit langem nicht mehr am alljährlichen Jamboree der Spitzenpolitik am UNO-Sitz in New York. Das hing in den vergangenen Jahren auch mit Donald Trump zusammen. Aber nicht nur.

Diesmal gab es aus den USA von Joe Biden erfreulichere Töne. Und unisono erleichtert äusserten sich alle Anwesenden, dass man sich endlich wieder physisch begegnen konnte. Voriges Jahr geriet, pandemiebedingt, die UNO-Gipfelwoche zum saftlosen Videokino. Jetzt kann man wenigstens wieder Auge in Auge aneinander vorbeireden.

Mehr Spannungen

Die unerfreuliche Erkenntnis: Die weltpolitischen Spannungen nehmen nicht ab, sondern weiter zu. Die erfreuliche und neue: Die Staats- und Regierungschefs merken, dass dies brandgefährlich wird.

Zwar teilten einzelne auch diesmal kräftig aus, der Türke Erdogan etwa oder der Brasilianer Bolsonaro. Und aus Russland ist auf der Weltbühne ohnehin seit langem kaum Konstruktives zu hören.

USA und China eher leise – Russland visionslos

Selbst da, wo Moskau fraglos Einfluss ausübt, hat der Kreml null Visionen. Eine Art Marshallplan für Syrien, für Belarus, für Zentralasien? Nicht mal ansatzweise. Offenkundig ist die russische Führung überzeugt, ihr Land habe international am meisten Einfluss als Störenfried, als Verhinderer.

Doch zumindest die beiden Supermächte mässigten sich diesmal im Ton. Sowohl Joe Biden als auch Xi Jinping verzichteten auf direkte gegenseitige Angriffe. Und kein Wort mehr von einem Weltpolizistenanspruch der USA. Militärische Mittel seien nur die allerletzte Option, so Biden. Von Xi gab's weder eine Tirade gegen Taiwan noch Einschüchterungsrhetorik adressiert an die Nachbarländer.

Vorsichtige Zurückhaltung

Dafür viel zum Klimathema. Zwar will Peking neuerdings nicht mehr geliebt, vielmehr gefürchtet werden. Aber das sagte Xi auf der internationalen Bühne nicht explizit. Selbst von den Führern aus Ländern wie Kuba, ja sogar vom neuen Staatschef im Iran, hatte man rhetorisch Schlimmeres erwartet, als dann tatsächlich kam.

Das Bewusstsein bricht sich Bahn, dass es heikel wäre, auch noch von alleroberster Warte auf der allergrössten weltpolitischen Bühne, jene im UNO-Generalversammlungssaal, Öl ins Feuer zu giessen.

Der heisse Krieg

Wiederholt hiess es diesmal, man wolle keinen neuen Kalten Krieg. Wohlwissend, wie unrealistisch dieser Wunsch ist. De facto hat zwischen den grossen Mächten bereits ein heisser Krieg begonnen – zwar nicht mit Waffen aus Stahl, jedoch mit Cyberattacken, Desinformationsmitteln und Wirtschaftssanktionen.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres warnte die Staats- und Regierungschefs eindringlich aufzupassen, dass die Konfrontationen nicht ausser Rand und Band geraten. Zumindest sehen inzwischen die meisten ein, dass eine weitere Eskalation an den zahlreichen Brandherden rund um den Globus droht. Immerhin ein Anfang.

Bloss: Von dieser Erkenntnis zu neuem Vertrauen und darauf bauend zu echter, umfassender Kooperation, ist der Weg weit. Die versammelten Staaten bezeichnen sich im UNO-Kontext zwar gerne als «Weltgemeinschaft». Doch derzeit verdienen sie diesen Titel nicht.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Echo der Zeit, 24.09.2021, 18:00 Uhr

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