Zwischen Israel und der Hamas gilt ein Waffenstillstand. Doch das heisst nicht, dass im Gazastreifen nicht trotzdem geschossen wird. Der Nahost-Experte Andreas Krieg erläutert die aktuelle Situation und die Hintergründe.
SRF News: Wie verhält sich die Hamas im Gazastreifen zurzeit?
Andreas Krieg: Die Hamas versucht, Stärke zu beweisen. Sie will vor den Kameras zeigen, wie resilient sie sei und dass sie keineswegs von Israel besiegt wurde. Aber vieles davon ist Illusion. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Hamas derzeit noch in der Lage ist, in dem Trümmerfeld zu regieren.
Angeblich geht die Hamas brutal gegen Leute vor, denen sie Kollaboration mit Israel vorwirft. Was ist da dran?
Es gibt Videos, die Hinrichtungen auf offener Strasse zeigen, die offenbar von Hamas-Leuten durchgeführt wurden. Verschiedene Clans versuchen, das bestehende Sicherheitsvakuum auszunutzen. Diese Clans sind in den letzten Monaten von Israel systematisch aufgebaut und auch mit Waffen ausgestattet worden. Jetzt versucht die Hamas, das Waffenmonopol zurückzugewinnen.
Offenbar hat Trump der Hamas unter der Hand zugesichert, dass sie vorerst für Sicherheit sorgen könne.
Bei den Leuten, die hingerichtet wurden, handelte es sich teilweise um Angehörige von Milizen, die sich gegen die Hamas gestellt hatten. Offenbar hat US-Präsident Donald Trump der Hamas unter der Hand zugesichert, dass sie in der Interimsphase, bis eine internationale Sicherheitstruppe vor Ort ist, für Sicherheit sorgen könne. Möglicherweise gerät diese Politik jetzt etwas aus dem Ruder.
Tobt im Gazastreifen also ein Kampf um die Macht?
Das ist wohl etwas übertrieben. Die Hamas ist sicherlich deutlich geschwächt und kann das Waffenmonopol, wie es vor dem 7. Oktober 2023 war, wohl nicht wiederherstellen. Eine übergeordnete Sicherheit gibt es im Gazastreifen derzeit keine mehr. Es gibt bloss auf sehr lokaler Ebene Ordnungen, die erst aufgebaut werden.
Israelische Waffen sind in die Hände der Hamas gefallen.
Das geschieht vielerorts durch die Clans – was die Hamas wiederum zu verhindern versucht. Und: Hamas-Kämpfer haben einige der Waffendepots, die die Israelis für die Clans im Gazastreifen angelegt hatten, erobert. Das ist ein Eigentor, denn jetzt sind die israelischen Waffen in die Hände der Hamas gefallen.
Wie steht es um den Nachschub von Waffen? Funktioniert der Schmuggel noch?
Teilweise sind die zum Schmuggel benutzten Tunnelsysteme wohl noch intakt. Manche von ihnen dürften auch in ägyptisches Territorium führen. Im Übrigen sind auch einige Clans Teil der ganzen Schmuggelstruktur in Richtung des Gazastreifens. Und so gelangen kleinere Waffen und Munition immer noch in das abgeriegelte Küstengebiet. Dagegen ist die Lieferung grösserer Systeme wie Raketen oder Drohnen wohl unterbunden worden. Doch im Gazastreifen gibt es immer noch genügend Schusswaffen. Auch sind möglicherweise manche der unterirdisch von der Hamas angelegten Waffendepots noch intakt.
Wie beurteilen Sie die Zukunft des Friedensprozesses? Ist die Hamas bereit, alle Waffen abzugeben?
Die Entwaffnung ist einer der schwierigsten Punkte. Eine völlige Entwaffnung, ohne dass Israel sich vollständig aus dem Gazastreifen zurückzieht, ist eher unrealistisch.
Es braucht jetzt möglichst schnell eine Sicherheitstruppe, die die Entwaffnung durchführt.
Und derzeit sieht es nicht danach aus, als ob die Armee das Küstengebiet zu hundert Prozent verlassen wird. So hat die Hamas stets ein Argument gegen eine vollständige Entwaffnung. Es braucht jetzt möglichst schnell eine Sicherheitstruppe, die die Entwaffnung durchführt, das Sicherheitsvakuum als Polizeitruppe füllt und möglichst ein Monopol der Waffengewalt herstellt.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.