Spionage findet im Verborgenen statt: Werden Spione eines befreundeten Landes enttarnt, dann regelt man das üblicherweise diskret. Deshalb war das Erstaunen gross, als der ukrainische Geheimdienst im Mai verkündete, man habe ein Spionagenetzwerk des ungarischen Militärgeheimdienstes aufgedeckt. Dieses sei in der westukrainischen Region Transkarpatien tätig gewesen und habe unter anderem die Aufgabe gehabt, Informationen über die Luftverteidigung zu sammeln.
Ungarische Drohnen über der Ukraine
In Transkarpatien lebt die ungarische Minderheit des Landes. Budapest dementierte umgehend und wies zwei ukrainische Diplomaten aus, mit dem Vorwurf, sie hätten spioniert.
Ende September gab der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bekannt, Aufklärungsdrohnen seien vom ungarischen Grenzgebiet in den ukrainischen Luftraum eingedrungen. Die Retourkutsche kam postwendend. Der ukrainische Präsident sei dabei, seinen Verstand in anti-ungarischer Besessenheit zu verlieren, schrieb der ungarische Aussenminister wenig diplomatisch auf der Plattform X.
Orbán zitiert russische Propaganda
Auch die ungarischen Streitkräfte dementierten. Doch dann sagte Premier Orbán: Er glaube seinen Ministern, aber falls die Drohnen doch ein paar Meter in die Ukraine reingeflogen wären, sähe er auch kein Problem. Die Ukraine sei sowieso kein souveränes Land. Die zwei, drei, vier ungarischen Drohnen, die über die Grenze geflogen seien oder nicht, das sei doch nicht das Thema.
Ein klares Dementi tönt anders, ausserdem wiederholte Orbán damit ein zentrales Thema der russischen Propaganda, nämlich dass die Ukraine gar kein eigenständiges Land sei. Das alles wirft Fragen auf.
Offiziere des ungarischen Militärgeheimdienstes haben die ukrainische Flugabwehr in Transkarpatien ausgespäht. Warum, für wen?
Auch beim ungarischen Sicherheitsexperten Andras Racz, der für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik arbeitet. Er sagt: Aus ungarischer Perspektive ergebe es keinen Sinn, die ukrainische Flugabwehr in Transkarpatien auszuspähen. «Und doch haben Offiziere des ungarischen Militärgeheimdienstes dies getan. Warum, für wen?»
Die Antwort, die manche Beobachter auf diese Frage geben, lautet: für Russland. Orbán unterhält nach wie vor enge und gute Beziehungen zum Kreml. Racz sagt, er sehe keine andere Erklärung, als dass die Informationen für Russland bestimmt gewesen seien. Denn die Nato brauche diese Informationen nicht, das Nato-Land Ungarn auch nicht.
Russland benötigt Informationen aus Quellen vor Ort.
Die russischen Streitkräfte hätten nur rudimentäre Informationen über die Luftverteidigung in der Westukraine: «Russland benötigt Informationen aus Quellen vor Ort.»
Die Ukraine hat im Westen des Landes Industrie und Rüstungsbetriebe angesiedelt. Bisher war es dort relativ ruhig, doch in letzter Zeit gerät die Region vermehrt ins Visier der russischen Drohnen und Raketen.
Letztlich ist offen, was genau vor sich geht. Aber eines ist klar: Die Spannungen zwischen den Nachbarn Ungarn und Ukraine sind gross. Und das, so sagt Racz, sei im Interesse von Premier Orbán.
In wenigen Monaten sind Wahlen: Orbáns Chancen stünden nicht gut, er habe kaum Erfolge vorzuweisen, deshalb konzentriere er sich auf die Aussenpolitik. Denn ein populistisches Regime brauche einen äusseren Feind, um sich als Retter gebärden zu können.
Früher dienten die Migranten oder der Investor George Soros als Bedrohung. Jetzt ist es die Ukraine – und Brüssel.