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Blick auf Blatten «Die Gefahr ist noch nicht vollständig gebannt»

Die Experten Matthias Huss und Robert Kenner haben von 16:00 bis 17:30 Uhr Ihre Fragen beantwortet – live im Chat. Die Antworten zum Nachlesen.

Ein ganzes Dorf ist unter Felsen und Geröll verschwunden – der Bergsturz im Walliser Blatten erschüttert nicht nur das Lötschental, sondern das ganze Land.

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Robert Kenner
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL

Matthias Huss
Professor für Glaziologie
ETH Zürich

Was hat der Klimawandel mit dem Bergsturz zu tun? Wie sieht es in Blatten aktuell aus? Macht es Sinn, das Dorf wieder an derselben Stelle aufzubauen? Und was können wir aus der Katastrophe lernen? Unsere Experten Robert Kenner (Institut für Schnee und Lawinenforschung) und Matthias Huss (Glaziologe ETH) haben Ihre Fragen von 16:00 bis 17:30 Uhr live im Chat beantwortet.

Chat-Protokoll:

In Anbetracht der riesigen Mengen Gestein und Fels welche dort oben noch locker sind und irgendwann auch noch auf den Gletscher und schlimmstenfalls bis ins Tal rollen können, macht es da Sinn das Dorf – an derselben Stelle wieder aufzubauen? – wäre nicht erst abzuklären, ob bald oder in ein paar Jahren nicht noch mehr Geröll zu erwarten ist? – wäre da ein möglichst rascher Wiederaufbau von Blatten nicht etwas voreilig?

Robert Kenner: Wenn es zum Wiederaufbau von Blatten kommen sollte, wird bei der Auswahl eines neuen Standortes ganz sicher auch entscheidend sein, wie stark diese Orte Naturgefahren wie Lawinen, Felssturz oder Überschwemmung ausgesetzt sind. Diese Dinge werden im Zuge dieses Planungsprozesses abgeklärt.

Gab es Warnungen? Und wurden sie ernst genug genommen?

Matthias Huss: Ja, Warnungen gab es, und sie wurden sehr ernst genommen. Nur deshalb wurde das Dorf rechtzeitig evakuiert und viele Menschenleben konnten gerettet werden. Ein grosses Bergsturz-Ereignis tritt nicht ganz ohne Vorzeichen ein: Die Steinschlagaktivität hatte schon Jahre zuvor zugenommen und nachdem grosse Massen an Geröll auf den Gletscher stürzten, wurde durch die Behörden rechtzeitig gehandelt. Man muss allerdings auch sagen, dass ein Abbrechen des ganzen Gletschers aufs Mal, und damit diese riesige Lawine, doch ein Maximal-Szenario war, auf das man sich nur schwer vorbereiten konnte.

Wann war nochmals absehbar, dass in Blatten ein Bergsturz droht? Danke fürs Beantworten!

Robert Kenner: Ich war nicht direkt an der Ereignisbewältigung beteiligt. Nach allem was ich weiss, war dies aber erst wenige Tage vor der Evakuation klar, als die Daten eines GPS Gerätes auf dem Kleinen Nesthorn eine starke Beschleunigung des Hanges zeigten. Dieses GPS Gerät wurde erst kurz davor installiert, nachdem ein Murgang vom Fuss des Kleinen Nesthorns bis nahe an den Dorfrand von Blatten kam und auf die Destabilisierung des Berghanges hinwies.

Hätte man die Katastrophe verhindern oder abmildern können?

Robert Kenner: Ich denke nicht. Selbst wenn wir schon vor einem Jahr gewusst hätten, dass es zu diesem Ereignis kommt, hätten Blatten nicht gerettet werden können. Der einzige Vorteil hätte darin gelegen, dass die Bewohner von Blatten mehr Zeit gehabt hätten ihre Häuser zu räumen.

Finden Sie es nicht auch sinnvoll, dass man sich in Blatten Zeit zum überlegen und planen lassen sollte und nicht voreilig, ein Dorf, vielleicht am falschen Ort, wieder aufzubauen? Sollte man sich nicht grundsätzlich fragen, in welchen Bergregionen bauen noch erlaubt sein soll? Sollte dafür nicht der Bund Vorschriften machen? Und müssen wir uns vielleicht fragen, welche Regionen wir verlassen sollen?

Matthias Huss: Auf jeden Fall soll man nun nichts überstürzen, was den Wiederaufbau des Dorfes angeht. Das braucht eine sehr durchdachte und umfassende Planung. Diese muss die zukünftige Gefährdungssituation, aber auch die Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen. Es ist heute schon so, dass man nicht überall bauen darf. Die Gefährdungskarten der Kantone sind bindend. Allerdings kann eine Gefährdungskarte nie alle möglichen, sehr seltenen Ereignisse abbilden und voraussehen. Da müssen nun neue Erkenntnisse zum Beispiel aus dem Ereignis im Lötschental einfliessen, um diese Karten zu verbessern. Ob wir uns aus ganz aus gewissen Gebieten zurückziehen sollten, die seit langer Zeit besiedelt waren, ist eine sehr schwierige Frage. Da sind viele lokale Traditionen involviert, die man nicht einfach ignorieren kann. Wenn es aber ganz konkrete Hinweise auf eine unmittelbar bevorstehende Gefährdung gibt, muss man solchen Warnzeichen Folge leisten.

Was genau hat den Bergsturz schon wieder ausgelöst?

Matthias Huss: Es handelt sich um eine Verkettung von verschiedenen Ereignissen, und der ursprüngliche Auslöser kann noch nicht genau festgemacht werden: Zuerst wurde das Kleine Nesthorn instabil und immer grössere Mengen an Felsen sind auf den Gletscher gestürzt. Diese Gesteinsmassen haben dann den Druck auf das Gletschereis immer mehr erhöht, bis der gesamte Gletscher – mit dem Geröll darauf – ins Tal gestürzt ist. Es wurde viel über den Zusammenhang mit dem Klimawandel geschrieben: Das Kleine Nesthorn ist in einem Permafrost-Bereich, und die Erwärmung führt zu tiefgreifenden Veränderungen in diesen Regionen. Wasser dringt in den Berg ein und kann ihn weiter schwächen. Allerdings war der Gipfel durch langfristige, geologische Prozesse schon destabilisiert worden. Der Klimawandel hat sehr wahrscheinlich einen Beitrag geleistet, war jedoch nicht der einzige auslösende Faktor.

Bei den ersten Aufnahmen von den Bewegungen des Nesthorns sah man den ganzen Berg abrutschen. Wie mir scheint ist nicht alles was in bewegung war runter gekommen. Ist der Berg jetzt sicher?

Matthias Huss: Es gibt noch immer grössere Felspartien, die sich bewegen und noch abstürzen könnten. Es kommt auch quasi ständig zu grösseren Steinschlägen. Allerdings gelangen diese Felsen nicht mehr ins Tal und werden in der Mulde des ehemaligen Birchgletschers aufgefangen. Dieses Material könnte aber auch später wieder mobilisiert werden, zum Beispiel durch Starkregen. Die Region muss also weiterhin genau beobachtet werden. Der Gletscher ist nun aber weg, und das Abbrechen von diesem hat es erst erlaubt, dass die grosse Menge an Material so schnell und gesamthaft ins Tal gelangt ist. Damit ist jetzt die Gefährdung mit Sicherheit deutlich geringer.

Welche Rolle spielte der Klimawandel bei diesem Ereignis?

Robert Kenner: Das ist eine sehr komplexe Frage. Wenn Permafrost im Berg auftaut, beeinflusst das eine ganze Reihe von Prozessen. Einige dieser Änderungen wirken destabilisierend, andere sogar stabilisierend. Der Nettoeffekt ist in jedem Fall unterschiedlich. Während wir bei der Instabilität am Spitze Stei oberhalb von Kandersteg ziemlich sicher sind, dass die Erwärmung eine Rolle spielt, weil sie den Berg Wasserdurchlässiger gemacht und so den Felsen geschwächt hat, sieht das im Fall vom Pizzo Cengalo 2017 schon anders aus. Am Nesthorn gibt es noch keine detailieren Untersuchungen und es ist zu früh die Frage zu beantworten. Ziemlich sicher ist aber, dass der Gletscher über Jahrtausende den Hangfuss erodiert hat und so den Sturz begünstigt hat.

Wie sieht es im betroffenen Gebiet aktuell aus? Ist noch Gefahr da?

Matthias Huss: In den letzten Tagen war ich zweimal vor Ort. Der Blick von Wiler hinauf gegen Blatten und ins Bergsturzgebiet ist sehr eindrücklich und zeigt die unglaubliche Kraft der Natur. Oben beim ehemaligen Birchgletscher sieht man eine Felswüste, die durch den Felssturz geprägt ist. Noch ständig donnern Felsbrocken aus den Flanken des Kleinen Nesthorns und bilden die Geräuschkulisse. Diese Steinschläge erreichen das Tal aber nicht mehr. Die Gefahr ist aber mit Sicherheit nicht vollständig gebannt, weshalb die Zone noch für längere Zeit grossräumig gesperrt bleibt.

Wissen Sie auch, wie es den Betroffenen gehts? Das würde mich sehr interessieren

Matthias Huss: Es ist schwierig, als Aussenstehender diese Frage zu beantworten und die Stimmung aufzufangen. Als ich im Tal war, habe ich eine grosse Betroffenheit, aber auch viel Solidarität und Zusammenhalt gespürt.

Gibt es in anderen Dörfern ähnliche Risiken wie in Blatten? Danke für Ihre Antwort.

Robert Kenner: Es gibt andere Orte in der Schweiz, in denen von der geologischen Ausgangslage ähnliche Szenarien denkbar wären. Allerdings kann niemand in einen Berg hineinsehen und sagen, wie stark die Struktur im Inneren schon geschwächt ist. Diese Prozesse gehen über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende. Deshalb müssen wir zwar an einigen Standorten prinzipiell damit rechnen, dass solche grossen Bergsturzereignisse stattfinden können, die Wahrscheinlichkeit, dass das im Einzelfall in den kommenden Jahren auch passiert ist aber jeweils sehr gering.

Gibt es Vermisste oder Verletzte?

Matthias Huss: Tragischerweise ist eine Person durch die Felslawine gestorben. Ansonsten gab es keine Verletzte.

Mich würde es interessieren, was die Katastrophe mit Ihnen selber gemacht hat? Also ist man da emotional nochmals mehr involviert, wenn man Experte dafür ist? Liebe Grüsse

Robert Kenner: Ich vermute schon, dass viele Leute, welche in diesem Bereich arbeiten besonders stark berührt sind. Einerseits natürlich aus Mitgefühl mit den direkt Betroffenen, andererseits natürlich auch deshalb, weil die eigene Arbeit plötzlich sehr im Fokus steht. Persönlich wurde ich mit vielen einfachen Fragen konfrontiert, auf die die Antworten oft viel komplizierter sind als man denkt. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich viele Dinge nochmals kritisch hinterfragt und viele Male durchgedacht habe.

Welche neuen Technologien helfen, zukünftige Bergstürze frühzeitig zu erkennen?

Robert Kenner: Es wird permanent versucht die Überwachung des Gebirgsraumes zu verbessern. Um Gefahrenstellen frühzeitig zu erkennen, wird immer stärker auf Daten von Radarsatelliten gesetzt. Auch diese Methode erlaubt bisher aber keine flächendeckende Überwachung. Es wird daher versucht, geologisch besonders anfällige Orte mit hohem Schadenpotential zu identifizieren um diese verstärkt vom Boden aus im Blick zu haben. Gibt es einen Verdacht, so kommen eine Reihe verschiedener Messsysteme zum Einsatz: GPS-Sensoren, bodengestützte Radarsysteme, Luftbildphotogrammetrie von Drohnen, Laserscanner oder ganz klassisch die Vermessung mit Tachymetern.

Was können wir aus dem Fall Blatten lernen? Danke

Matthias Huss: Sowohl die Öffentlichkeit und die Wissenschaft kann und muss  viel aus diesem tragischen Ereignis lernen. Dass ein ganzes Dorf innert Sekunden verschwindet, das rüttelt wach und zeigt auf, dass diese zerstörerischen Naturgewalten plötzlich sehr nah sein können. Nicht irgendwo auf der anderen Seite der Welt. Wir realisieren dadurch, dass wir die Gefährdungssituation sorgfältig einschätzen müssen, und sich diese mit dem Klimawandel ständig verändert. Für die Wissenschaft gibt das Ereignis wichtige Einblicke in die ablaufenden Prozesse. Das erlaubt ein besseres Verständnis für die Zukunft und damit solche Ereignisse besser voraussagen oder rechtzeitig erkennen zu können.

Konnten sich die Bewohner von Blatten auf den Bergsturz vorbereiten? Also wie viel vorher wussten sie, dass das passieren könnte?

Matthias Huss: Die Aufforderung zur Evakuierung kam plötzlich, als man festgestellt hat, dass immer grössere Felsmassen vom Kleinen Nesthorn abbrechen und ins Tal gelangen könnten. Wieviel Zeit die Bewohner genau hatten, ihre Sachen zu packen, weiss ich leider nicht. Anschliessend konnten die Häuser bis zum grossen Fels- und Eissturz nicht mehr betreten werden. Bei einer Evakuierung muss natürlich immer vom Schlimmsten ausgegangen werden, aber ich glaube, dass kaum jemand tatsächlich damit gerechnet hat, dass das Dorf vollständig zerstört wird. Sich das nur vorzustellen, ist fast unmöglich, auch wenn rechnerische Szenarien das aufzeigen.

Guten Tag, was genau bedeutet «Permafrost»?

Robert Kenner: Permafrost bezeichnet alle Arten von Boden (Im Gebirge fester Fels oder Schutthalden), dessen Temperatur nie über 0° C ansteigt, der also das ganze Jahr über gefroren ist. In den Schweizer Alpen findet man Permafrost in Schuttgebieten oberhalb von circa 2200 m.ü.M. und in Felswänden oberhalb von circa 3000 m.ü.M. schattseitig ist die Permafrostgrenze ein paar hundert Höhenmeter tiefer als in stark besonnten Südhängen. Er reicht bis in eine Tiefe von mehreren zehn Metern, auf den höchsten Gipfeln bis zu mehreren hundert Metern. In der Schweiz tritt Permafrost etwa auf drei Prozent der Landesfläche auf. Gemessene Jahresmittel der Permafrosttemperaturen reichen von bis zu minus zehn Grad Celsius in den höchsten nordseitigen Lagen zu nur wenig Grad unter null nahe der Permafrostgrenze. Der grösste Teil des Permafrosts in den Schweizer Alpen ist warm, das heisst, seine Temperatur liegt nur ein bis zwei Grad unter dem Schmelzpunkt. Einen einfachen Überblick über die Permafrostverteilung erhält man mit Hilfe der SLF Permafrostkarte (PGIM) unter maps.wsl.ch. In Klüften und in den mikroskopisch kleinen Poren (Hohlräumen) vom Permafrostfels existiert Eis, welches tausende Jahre alt sein kann. Dieses Eis kann nach einem Felssturz in der Anrisszone sichtbar werden, oft sind die kleinen Mengen aber auch kaum erkennbar.

Wie läuft die Bergung oder Aufräumarbeit vor Ort ab?

Matthias Huss: Es ist noch immer zu gefährlich, mit viel Personal auf dem Schuttkegel zu arbeiten. Es konnte aber sehr schnell eine provisorische Strassenverbindung in den abgeschnittenen hinteren Teil des Tals erstellt werden. Zusätzlich wird nun daran gearbeitet, den Lauf des Flusses über den Schuttkegel einzutiefen und damit zu stabilisieren. Dies soll es auch erlauben, die verschiedenen durch den Sturz gestauten Seen allmählich zu entleeren. Weiter hat man begonnen, mit schweren Maschinen auf dem Schuttkegel zu arbeiten und einen Zugang zu erstellen. Doch diese Aktivitäten stehen noch ganz am Anfang.

Wie schnell ging es vom Beginn des Bergsturzes, bis alles zerstört war? Also waren das nur wenige Minuten oder Stunden oder mehr?

Matthias Huss: Vom Moment als der Birchgletscher in Bewegung gekommen ist, bis zur Ablagerung der Felssturz-Masse im Tal und der kompletten Zerstörung dauerte es knapp 1 Minute! Der Sturz erreichte Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/h. Das Ereignis als Ganzes betrachtet, dauerte aber viel länger. Die ersten grösseren Felsstürze am Kleinen Nesthorn fanden fast zwei Wochen vor der Fels-Eis-Lawine statt und der Berg war schon davor unter genauer Beobachtung. Dies erlaubte es, die Einwohner rechtzeitig zu warnen und zu evakuieren.

Wo stellt ihr euch vor, das Dorf wieder aufzubauen? Am selben Ort, wo es stand und wenn nein, was passiert mit jenen Bewohnern dessen Häuser noch stehen?

Matthias Huss: Wie und wo man Blatten wieder aufbaut, das müssen die lokalen Behörden in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen bestimmen. Ein Aufbau an genau derselben Stelle ist nicht möglich aus Sicherheitsgründen und auch da die Sturzmasse noch über längere Zeit instabil bleiben wird. Momentan ist geplant umliegende Weiler weiter aufzubauen und einen neuen Dorfkern an einer sicheren Stelle zu errichten.

Wie hoch ist der Sachschaden?

Matthias Huss: Die Zahl von 320 Millionen Franken wird genannt. Hierbei handelt es sich aber um versicherte Werte. Wie hoch der tatsächliche Schaden sein wird – was auch immaterielle Werte berücksichtigt – ist schwer zu sagen. Der Verlust ist auf jeden Fall enorm.

Aber müssen wir jetzt noch besser schauen wegen dem Klimawandel oder was müssen wir tun, damit das nicht nochmals passiert? Liebe Grüsse

Matthias Huss: Solche Gross-Ereignisse aktiv aufzuhalten, ist leider nicht möglich. Wir müssen aber daraus lernen und vor allem die Früherkennung und Frühwarnung verstärken, um die Bewohner rechtzeitig evakuieren zu können. Der Klimawandel äussert sich durch eine Vielzahl von negativen Auswirkungen (Hitze, Dürren, Starkniederschläge, Gletscherschmelze, Naturgefahren). Man kann die Erwärmung nicht sofort stoppen, aber globaler Klimaschutz erlaubt es langfristig eine Stabilisierung zu erreichen. Ereignisse wie in Blatten führen uns brutal vor Augen, wie wichtig das ist.

Wird es ein 2 Blatten geben?

Robert Kenner: In der Schweizer Geschichte gibt es mehrere Fälle von Bergstürzen, welche grossen Schaden verursacht haben. Die Frage ist daher eher, wann und nicht ob es wieder zu so einem Ereigniss kommen kann. Unser Gebirge wurde in seiner jetzigen Form durch die Gletscher der letzten Eiszeit geformt und reagiert noch heute auf diese starke Erosion. Das ist einer der Hauptgründe, warum es überhaupt zu Bergstürzen kommt. Kurzfristiger spielt auch das Klima eine Rolle. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass es zukünftig eine Häufung von Bergstürzen im Hochgebirge geben könnte, wie gross diese Häufung am Ende ausfällt kann meines Erachtens im Moment noch keiner seriös beantworten. Um konkret beim Fall von Blatten zu bleiben: Hier sorgt der Klimawandel an anderer Stelle langfristig auch für sinkende Risiken. Die Gletscher verschwinden in immer grösserem Tempo und ohne den Birchgletscher hätte es das Worst Case Szenario von Blatten vermutlich nicht gegeben.

Könnte man sondieren, ob der Kirchturm noch steht oder ob die ganze Kirche pulverisiert ist? Kann man auf dem Schuttkegel gehen, oder können Raupenfahrzeuge darauf fahren? Vielen Dank!

Matthias Huss: Unter dem gewaltigen Druck kann ich mir nicht vorstellen, dass der Kirchturm noch steht. Abschliessend feststellen kann man dies nur durch Grabungen, die man sicher in Angriff nehmen wird, wenn sich die Lage entspannt hat. Räumungsfahrzeuge können den Schuttkegel am Rand schon befahren, aber man ist noch weit davon entfernt das Dorf freizulegen.

Wie lange wir der See der aufgestauten Lonza bestehen bleiben?

Matthias Huss: Ohne bauliche Massnahmen könnte der See noch über eine längere Zeit bestehen bleiben. Allerdings muss es das Ziel sein, das Bett der Lonza auf dem Schuttkegel abzusenken, damit zu stabilisieren und auch den See zu entleeren. Wann dies der Fall sein kann, weiss ich aber nicht.

Gab es sowas wie in Blatten schonmal irgendwo? Warum hat sich die ganze Welt dafür interessiert? Merci fürs Beantworten

Robert Kenner: Kombinationen von Berg- und Gletscherstürzen kommen weltweit immer wieder vor. Dies mit sogar noch erheblich grösseren Volumen als jenen, die jetzt in Blatten in Bewegung geraten sind. Viele dieser Ereignisse passieren in sehr entlegenen Gebieten aber es gab auch Fälle, in denen es zu verheerenden Schäden und hohen Opferzahlen kam. Oft auch deshalb, weil sich Teile der Sturzmassen verflüssigten und als Murgang sehr grosse Distanzen zurück legten. Das dieses Ereignis nun in der dicht besiedelten Schweiz passiert ist, hat sicherlicht zum internationalen Medieninteresse beigetragen.

Die grosse Katastrophe ist wohl dem Gletscher geschuldet, welcher unter dem Druck der 6 Millionen Kubikmeter Gestein und Geröll, welche aufgrund des Bergsturzes auf diesem zum Liegen gekommen sind, geschmolzen ist, und sich somit in Bewegung Richtung Tal gesetzt hat. Wenn nun in ein paar Jahrzehnten alle Gletscher verschwunden sein werden, ist so eine Katastrophe wie in Blatten wohl gar nicht mehr möglich, weil das Geröll bereits oberhalb von Blatten liegen geblieben wäre. Können Sie abschätzen, wann wir von so einer spezifischen Gefahr gefeit sein werden ?

Matthias Huss: Ja, Sie haben absolut recht, dass das Ereignis in Blatten zur Katastrophe wurde, da der Gletscher noch existierte. Ohne Gletscher wäre Blatten wohl nicht komplett verschüttet worden. Tatsächlich ist die Übergangszeit von Alpen mit Eis zu Alpen ohne Eis am heikelsten, da sich dann grosse Veränderungen abspielen, die eben auch zu Instabilitäten führen können. Allerdings generell zu sagen, dass wir ganz ohne Gletscher sicher sind, ist falsch: Grosse Bergstürze können sich auch ohne Gletscher ereignen, siehe z.B. Brienz oder Randa (1991). Es kommt immer auf den spezifischen Fall an.

Tagesschau, 18.6.25, 19.30 Uhr ; 

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