Die SRF-Bestenliste präsentiert jeweils fünf beste, Jury-gewählte Bücher des Monats. Zum Jahresende gibt es hier nun fünf ganz persönliche Leseempfehlungen aus der SRF-Literaturredaktion.
Sylvie Schenk: «In Erwartung eines Glücks»
Sylvie Schenks «Maman» stand 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, seither ist sie nicht mehr unbekannt. Der Roman rekonstruiert die Geschichte ihrer Mutter zwischen Armut und Schweigen. In ihrem neusten Buch «In Erwartung eines Glücks» liegt Protagonistin Irène im Spital, Erinnerungen an den verstorbenen Mann und der Alltag aus Begegnungen mit Ärztinnen, Pflegepersonal und Patientinnen durchziehen die Gegenwart. Es geht um grosse Themen: Liebe, Leben, Schicksalsschläge und auch um Literatur. Sylvie Schenk macht schwere Themen leicht und humorvoll, philosophisch und zugänglich. Sie schreibt Bücher, die lange nachhallen. (Jennifer Khakshouri)
Fang Fang: «Blume Vollmond»
Hua Manyue, Tochter aus der chinesischen Oberschicht, spielt im Casino so verbissen Mah-Jongg, dass sie 1949 die Flucht vor der kommunistischen Revolution verpasst. In der neuen Gesellschaft gilt sie als Verbrecherin und muss untertauchen. Sie heiratet ihren früheren Rikschakuli und lebt Jahrzehnte in grösster Armut. Bis eine erneute politische Wende ihre Identität offenbart. Fang Fang schildert eine vom Überlebenskampf geprägte Gesellschaft und nimmt ganz beiläufig die menschenverachtende chinesische Politik des 20. Jahrhunderts ins Visier. Eine eindrückliche Lektüre! (Markus Gasser)
Nora Gomringer: «Am Meerschwein übt das Kind den Tod»
Einen «Nachrough» nennt die deutsch-schweizerische Lyrikerin Nora Gomringer ihren Prosatext im Untertitel. Es ist ein rauer Nachruf auf ihre Mutter. Und es ist ein harter Blick auf das Leben mit einem berühmten Vater (dem Begründer der konkreten Poesie), der so genial wie patriarchalisch wie notorisch untreu war. Nora Gomringer zwischen Nortrud und Eugen Gomringer: «Am Meerschwein übt das Kind den Tod» ist ein hinreissender Text über Rollen, den Sinn des Lebens, die Kunst und den Tod. Trotz seiner oft schweren Themen liest sich das Buch wunderbar. Es ist charmant, frech und prunkvoll. (Franziska Hirsbrunner)
Paul Lynch: «Jenseits der See»
Worauf kommt es im Leben wirklich an? Diese Frage verhandelt der irische Booker-Preis-Träger Paul Lynch in seinem wuchtigen und atemberaubenden Abenteuerroman «Jenseits der See». Das Buch erzählt von zwei mexikanischen Fischern, die nach einem Sturm über Monate führungslos auf den Weiten des Pazifiks treiben und schutzlos der unbarmherzigen Natur ausgeliefert sind. Diese Romananlage dient Paul Lynch als anthropologisches Labor, um die nackte menschliche Natur sichtbar zu machen. Der Befund ist verstörend – und zuletzt doch versöhnlich. (Felix Münger)
Elisa Shua Dusapin: «Damals waren wir unzertrennlich»
Agathe, Drehbuchautorin in New York, kehrt nach fünfzehn Jahren ins französische Périgord zurück, um mit ihrer Schwester Véra das Elternhaus zu räumen. Neun Tage lang suchen die beiden Nähe – und stossen auf Distanz. Alte Erinnerungen brechen auf, an Kindheit, ans Schweigen. Denn Véra spricht seit ihrem sechsten Lebensjahr nicht mehr. Dusapin inszeniert ein Kammerspiel von grosser Intensität über die fragile Beziehung zweier Schwestern. Ihr Stil ist knapp, elliptisch, voller Pausen. Das Ungesagte wird zum Resonanzraum für Emotionen. Ein leiser, eindringlicher Roman, der im französischen Sprachraum begeistert aufgenommen wurde. (Annette König)